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„Beweislage in der Regel sehr strittig“: Das komplette Interview mit Professor Thomas Feltes
Polizeigewalt
Rund 95 Prozent der Strafverfahren gegen Polizisten werden in Dortmund eingestellt. Wir haben mit dem Kriminologen Professor Thomas Feltes darüber gesprochen, warum das so ist.
Professor Dr. Thomas Feltes war 10 Jahre lang Rektor der Hochschule der Polizei in Baden-Württemberg. 2002 wurde er zum Professor für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum berufen. Diesen Lehrstuhl hatte er bis 2019 inne. Feltes ist seit 40 Jahren als Experte für nationale und internationale Organisationen, Regierungen und Institutionen tätig, darunter die Vereinten Nationen, Interpol und das FBI. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind Straftaten durch und gegen Polizeibeamte.
Herr Professor Feltes, ist es normal, dass ein hoher Anteil der Ermittlungsverfahren gegen Polizeibedienstete eingestellt wird?
Thomas Feltes: Das ist zumindest kein neues Phänomen. Mein Kollege Tobias Singelnstein hat schon vor vielen Jahren beschrieben, dass Verfahren gegen Polizeibeamte zu 95 Prozent von der Staatsanwaltschaft eingestellt werden. Dabei ist es generell nicht ungewöhnlich, dass Ermittlungsverfahren eingestellt werden. Selbst bei schweren Delikten gibt es eine Einstellungsquote von 70 bis 80 Prozent. In der Regel ist das der Fall, wenn die Staatsanwaltschaft der Auffassung ist, dass die Beweislage für eine Verurteilung vor Gericht nicht ausreicht. Allerdings werden Verfahren gegen Polizeibeamte weitaus häufiger eingestellt als andere Verfahren.
Woran liegt das?
Zum einen ist bei diesen Verfahren die Beweislage in der Regel sehr strittig. Es liegen zumeist Aussagen von mehreren Polizisten und oft nur einem Opfer und keinem oder wenigen Zeugen vor. Dann steht Aussage gegen Aussage. Das allein ist schon ein Grund für die Staatsanwaltschaft, sehr genau zu überlegen, ob sie Anklage erhebt. Sie muss prüfen, ob dieser Widerspruch auch vor Gericht bestehen bleibt und es deshalb nicht zu einer Verurteilung kommt.
Der zweite, wichtigere Grund ist, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Alltag eng zusammenarbeiten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht selbst, sie muss sich darauf verlassen können, dass das, was die Polizei ihr vorlegt, vollständig und verlässlich ist. Wenn es zu einer Anklage kommt, dann müssen die von der Polizei zusammengetragenen Beweise für eine Verurteilung ausreichen. Dadurch entsteht eine Form von Abhängigkeit, und Polizisten haben bei Staatsanwälten einen Vertrauensvorschuss. Staatsanwälte und auch Richter glauben eher Polizeibeamten als „normalen“ Bürgern.
Ist dieses Grundvertrauen gerechtfertigt?
Im Prinzip ja, aber nur, wenn alle Beteiligten ordnungsgemäß ihre Arbeit machen. Allerdings wissen wir, dass in Fällen, in denen unnötige oder gar rechtswidrige Gewalt durch Polizeibeamte angewendet wird oder sonstige Fehler gemacht werden, die Ermittlungsverfahren von der Polizei oftmals nicht objektiv durchgeführt werden. Es gibt immer wieder Fälle, in denen die Polizei falsche oder unvollständige Sachverhaltsdarstellungen an die Staatsanwaltschaft gibt. Da der Staatsanwaltschaft nur der Ermittlungsbericht der Polizei vorliegt, ist eine einseitige und Polizeibeamte entlastende Darstellung von ihr kaum nachzuprüfen. Staatsanwälte sollten generell Berichte von Polizeibeamten im Zusammenhang mit exzessiver Gewalt kritischer hinterfragen und ggf. auch Opfer und Zeugen selbst anhören.
Was verleitet Polizisten dazu, falsche Ermittlungsergebnisse an die Staatsanwaltschaft weiterzugeben?
Es gibt leider noch immer keine angemessene Fehlerkultur innerhalb der Polizei. Richtig wäre es, Fehler, die gemacht wurden, einzugestehen und die Ursache dafür abzustellen. Menschen machen nun mal Fehler, auch in der Polizei, und dies muss man akzeptieren. Leider fällt dies der Polizei, aber auch der Politik schwer. Häufig handeln Polizeibeamte gemeinsam und sprechen sich hinterher ab, um Fehler, die gemacht worden sind zu vertuschen. Im Laufe eines Ermittlungsverfahrens kann so eine Fehlerspirale entstehen: Bei der ersten Sachverhaltsschilderung werden Dinge verharmlost oder weggelassen, bei späteren Nachfragen durch die Staatsanwaltschaft oder vor Gericht muss man sich dann auf Gedächtnislücken berufen oder sogar lügen. In besonders schwerwiegenden Fällen werden sogar Akten gefälscht oder Aktenteile verschwinden.
Das heißt, Polizisten decken sich gegenseitig?
Polizeibeamte, die beobachten, wie ein Kollege unangemessene Gewalt anwendet, sind in einer extrem schwierigen Situation. Eigentlich müssten sie dieses Verhalten anzeigen, sonst machen sie sich gegebenenfalls selbst wegen Strafvereitelung im Amt strafbar. In einer solchen Situation muss ein Polizist sehr schnell entscheiden, ob er einen Kollegen anzeigt, mit dem er regelmäßig zusammenarbeitet, auf dessen Unterstützung er angewiesen ist und dem er im Einsatz vertrauen muss. In der Regel tut er das dann nicht. In dem Moment, in dem er durch eine solche Anzeige sich quasi aus dem Kreis der Kollegen herausbegibt, wird sein Alltag bei der Polizei nicht mehr so einfach sein, es sei denn, Vorgesetzte unterstützen sie.
Wenn sich dann das Verfahren nach einigen Wochen weiterentwickelt hat und Nachfragen von der Staatsanwaltschaft oder von den Medien kommen, hat der Polizist ein Problem, weil er keine Anzeige erstattet hatte. Er muss sich dann entweder darauf zurückziehen, nichts gesehen oder gehört zu haben oder aktiv lügen.
Hinzu kommt, dass Strafverfahren für Polizisten ganz erhebliche Konsequenzen haben können – auch mehr als für einen normalen Bürger. Da stehen die berufliche Karriere und die gesamte persönliche Situation auf dem Spiel. Das ist auch ein Grund, warum man dann dazu neigt, das eigene Verhalten zu relativieren, die Schuld bei anderen zu suchen oder Fehlverhalten schlichtweg zu negieren. Dazu kommt die sogenannte „Mauer des Schweigens“: Polizeibeamte sagen als Zeugen nur sehr selten gegen ihre Kollegen aus, und wenn, dann müssen sie mit Repressalien rechnen.
Sind immer die gleichen Beamten Gegenstand von Verfahren oder handelt es sich dabei um ein Massenphänomen?
Nein, es ist kein Massenphänomen, es handelt sich aber auch nicht um die wenigen „faulen Äpfel“, von denen gern die Rede ist. Wir haben ein strukturelles Problem, was den Umgang mit solchen Fällen in der Polizei angeht und wir haben Personen, die auf Grund ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihres Verhaltens solche Probleme quasi anziehen. In der Regel wissen die Vorgesetzten auch, welche Beamten in einem Revier häufig an Ärger beteiligt sind und besonders viele „Widerstandshandlungen“ zu Protokoll geben. Diese intern als „Widerstandsbeamte“ bezeichneten Personen sind ein Führungsproblem: Vorgesetzte müssen sich mit ihnen intensiv auseinandersetzen und dürfen nicht nur auf disziplinarische Maßnahmen vertrauen. In den USA geht man damit anders um. Man bietet Hilfestellungen an, zum Beispiel Mediations- oder Konfliktschlichtungstrainings. Man unterstützt solche Beamte positiv, und wer diese Unterstützung annimmt, wird gefördert. Bei uns gibt es eine Sanktionskultur, und Sanktionen ändern kein Verhalten.
Wie lässt sich so ein strukturelles Problem lösen?
Ich fordere seit Jahren zusammen mit vielen Kollegen unabhängige, externe Untersuchungskommissionen oder zumindest einen politisch unabhängigen Ombudsmann, an den sich Polizisten in Konfliktfällen wenden können. Diese Kommissionen sollten strittige Sachverhalte und Übergriffe von Beamten auch selbst untersuchen können und nicht eine benachbarte Polizeibehörde, die strukturell befangen ist. Polizeigewerkschaften blockieren solche Vorschläge nach wie vor massiv, was auch von Polizeibeamten selbst kritisiert wird. Denn für sie wären solche externen Einrichtungen ebenfalls hilfreich.
Geboren in Dortmund. Als Journalist gearbeitet in Köln, Hamburg und Brüssel - und jetzt wieder in Dortmund. Immer mit dem Ziel, Zusammenhänge verständlich zu machen, aus der Überzeugung heraus, dass die Welt nicht einfacher wird, wenn man sie einfacher darstellt.
