
© Gaby Kolle
Alkohol, Drogen, Knast - Dortmunderin: „Ich habe mein Leben weggeschmissen“
Wendepunkt
Melissas Weg schien vorgezeichnet: psychische Störung, Alkohol- und Drogensucht. Als die 25-Jährige aus dem Gefängnis kam, war sie ein Wrack. Doch sie bekam die Chance zur Umkehr.
Wenn Melissa von sich erzählt, wirkt die junge Frau mit dem roten Hoodie und dem Nasenpiercing abgeklärt. Das Drama, die Höhen und Tiefen, die sie so anschaulich und eloquent aus den 25 Jahren ihres Lebens schildert, wollen nicht so recht zu ihrem selbstbewussten Auftreten passen. Dass das so ist, hat sie auch der Dortmunder Einrichtung „Wendepunkt“ in der Münsterstraße zu verdanken.
Melissa, jüngstes von vier Kindern, hat von ihrer Mutter „Gewalt erfahren“, berichtet sie. Mit etwa elf Jahren begann sie zu rauchen, dann fing sie an zu trinken, geriet an falsche Freunde. „Ich hatte eine Zeit lang auch mit Neonazis zu tun“, sagt sie. Sie wurde speed- und alkoholabhängig. „Ich habe mich verleiten lassen, die Schule geschwänzt. Ich habe mein Leben weggeschmissen“, erzählt sie ganz nüchtern.
Sie ritzte sich, leidet unter dem Borderline-Syndrom, einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung gekennzeichnet von Impulsivität und Instabilität.
Mit 18 Jahren Zwillingsmutter
Sie wurde schwanger, bekam mit 18 Jahren Zwillinge und war damit überfordert. Als Borderlinerin war sie unfähig, innere gefühlsmäßige Zustände wie Wutausbrüche zu kontrollieren. Wegen Misshandlung Schutzbefohlener verbrachte sie fast zweieinhalb Jahre in Haft. Die Kinder sind in der Obhut des Jugendamtes.
„Als Wrack“ sei sie vorzeitig aus der Haft gekommen, überfordert von der Außenwelt. „Es war nicht der richtige Zeitpunkt damals. Innerlich war ich ein Chaos, ich wusste nicht, wo vorn und hinten ist.“
Denkbar schlechte Bedingungen für einen Neustart. Auflage für die vorzeitige Entlassung war die stationäre Betreuung. Sie landete schließlich beim Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen NRW (VSE), genauer beim Projekt „Sputnik“ in Hörde.
Ein Dach über dem Kopf
Sputnik konnte ihr den sehnlichsten Wunsch erfüllen: eine Wohnung. „Ich wollte nicht auf der Parkbank schlafen müssen.“ Neben einem Therapieplatz ist eine Wohnung die wichtigste Voraussetzung, um den Alltag in der Welt jenseits der Gefängnismauern irgendwie zu bewältigen.
Der VSE habe ihr den „Schubs in die richtige Richtung“ gegeben, erst in seiner Einrichtung „Sputnik“, dann beim Ableger „Wendepunkt“ in der Nordstadt, der sich seit August 2021 im Aufbau befindet. Gut die Hälfte der 19 Plätze stehen bislang zur Verfügung.
„Mit sehr vorsichtiger Haltung“ sei sie da reingegangen, sagt Melissa. Sie war misstrauisch, „aber dankbar, ein Dach über dem Kopf zu haben“. Beim VSE und beim „Wendepunkt“ habe sie „offene und herzliche Menschen kennengelernt“. Wie ihre Betreuerin und Sozialpädagogin Christina Mirbeth und Co-Betreuer Martin Richter.
Stationäre Betreuung in eigener Wohnung
Die Einrichtung „Wendepunkt“ gilt zwar als stationäre Betreuung, doch die Betreuung ist dezentral, eben in der eigenen Wohnung. „Wendepunkt“ unterstützt junge Erwachsene im Alter zwischen 21 und 27 Jahren, die von Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht sind, wieder Fuß zu fassen, zum Beispiel nach einem längeren Aufenthalt in Haft oder Psychiatrie.
Die maximal zweijährige Betreuung beginnt mit dem Einzug. Die Problemlagen der Betroffenen sind wie im Fall von Melissa individuell und vielfältig, die Annahme der Hilfe ist freiwillig. Das Wichtigste sei das Wohnen und Einrichten, Rechte und Pflichten als Mieter zu erkennen, die Wohnung in Ordnung zu halten und eine selbstständige Lebensführung zu lernen, erklärt Sozialpädagogin Mirbeth.
„Viele, die zu uns kommen, brauchen Hilfe beim Beantragen aller erforderlichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“, sagt Christina Mirbeth. Die Betreuten wüssten meist nicht, was ihnen an Leistungen zustehe. Manche hätten zudem Schulden. Schon beim Ummeldetermin für die Wohnung bräuchten sie Unterstützung. Oft hätten sie keinen Personalausweis und keine Krankenversicherung.
Betreuung über zwei Jahre
„Es fehlt ein Erwachsener an der Seite, den man gewisse Dinge fragen kann oder wo man sich rückversichern kann. Das ist oft unsere Rolle, an der Seite zu sein der jungen Leute, am Start zu sein, wenn es nötig ist“, so Christina Mirbeth.
Und es gibt noch mehr ganz praktische Unterstützung. So hilft der technische Dienst des VSE beim Aufbau der Möbel.
Der Mietvertrag für die Wohnung läuft auf den VSE. Ziel der Hilfe ist, dass der oder die Betreute den Mietvertrag für die Wohnung spätestens nach zwei Jahren selbst übernimmt. Bis dahin greifen die Wendepunkt-Mitarbeiter den Betreuten unter die Arme, wenn sie sie sanft ins Wasser schubsen.
Panik wegen kaputter Dusch-Dichtung
Der Auftakt nach der Haft war für Melissa schwer. Als sie Anfang 2020 in ihre Wohnung zog, geriet sie zunächst in Panik, als die Dichtung der Dusche kaputt war. Was für andere Menschen kein Problem ist, ist für Menschen wie Melissa ein ganzer Problemberg.
„Doch dann habe ich mir in Erinnerung gerufen, was Christina mir gesagt hat, wenn ich sie nicht erreiche: die Vermieterin anrufen. Dann musste ich einen Klempner-Termin machen. Der Klempner hat auch noch den Wasserhahn kaputtgemacht. Das war die Feuertaufe. Da habe ich gemerkt, du schaffst es allein.“
Für Krisensituationen ist bei „Wendepunkt“ eine Rufbereitschaft über Tag und Nacht eingerichtet, die auch Melissa in Anspruch nehmen musste, zum Beispiel wenn wieder mal eine Liebesbeziehung zerbrochen war. „Ich bin Borderlinerin. Es gab auch in meiner Zeit Momente, dass ich im Borderline so drinsteckte. Christina hat sich mit mir auf den Boden gesetzt“, erzählt sie. Hilfe auf Augenhöhe. „Die arbeiten Hand in Hand mit einem, sind vorurteilslos und sehr behutsam.“
Suizidversuch nach einem halben Jahr
Als es dann neben der verlorenen Liebe im Sommer 2020 beim Christlichen Jugenddorfwerk (CJD) in Oespel aufgrund von Rückenproblemen mit der Hauswirtschaftsausbildung nicht im ersten Anlauf klappte, unternahm Melissa einen Suizidversuch und kam in eine Klinik. „Ich spürte nur noch eine innere Leere.“
In Absprache mit der Arbeitsagentur hat sie dann ein Jahr mit der Ausbildung pausiert, die sie inzwischen in Teilzeit wieder aufgenommen hat.
Zusätzlich zur individuellen Einzelbetreuung bietet „Wendepunkt“ auch Gruppenangebote wie Ferienfreizeiten in Holland an. Eine Woche im Jahr mal etwas anderes erleben: Windsurfen, Drachensteigen, Fahrradfahren.
„Mir tut das Ausrasten im Nachhinein leid“
Davon schwärmt Melissa noch. Doch anfangs war sie skeptisch. Zwölf Leute fuhren mit. „Das hat mich sehr viel Überwindung gekostet. Ich wurde schon zu häufig enttäuscht. Doch der VSE hat mir geholfen, meine Krankheit wirklich anzuerkennen. Der ist wie eine kleine Familie.“ Früher hat sie die notwendigen Medikamente einfach weggelassen, war gereizt, unausstehlich. „Mir tut das Ausrasten im Nachhinein leid.“
Heute nimmt sie ihre Medikamente, „als Sprungbrett für die Seele“, sagt sie. Sie will nach vorn blicken, nicht zurück. „Ich habe mehr auf die anderen geguckt als auf mich.“ Inzwischen hat sie viele „Freunde“ aussortiert. „Was mir nicht guttut, lasse ich gehen.“
Für Melissa waren die zwei Jahre beim VSE im November um. Der Mietvertrag ist seitdem auf sie überschrieben. Sie hat den „Wendepunkt“ „mit zwei weinenden Augen“ verlassen. Ist aber auch noch irgendwie nicht ganz weg.
Die beste Entscheidung
„Wir machen auch eine Nachbetreuung“, sagt Christina Mirbeth, „Wohnraumabsicherung im Nachgang“, nennt sie das, „da fühlen wir uns zuständig.“ Viele Betreute schauten auch nach Jahren immer mal wieder rein. „Man bleibt in lockerem Kontakt, wenn die Leute das möchten.“
Für Melissa ist klar: „Das war die beste Entscheidung, dem VSE zu vertrauen.“ Ein engagierter Lehrer, der zu ihrer Schulzeit dafür gesorgt hat, dass sie zumindest den Hauptschulabschluss schafft, hat ihr später erklärt, warum er sich so für sie eingesetzt und sie morgens von zu Hause abgeholt hat. „Weil ihr unsere Zukunft seid“, habe er gesagt. Das verbinde ihn mit dem Wendepunkt, sagt Melissa: „Sie zeigen es einem hier.“
Grundlage ist ein Hilfeplan
- Bei „Wendepunkt“ können sich volljährige Hilfesuchende im Alter zwischen 21 und 27 Jahren selbst melden.
- In einem oder mehreren Gesprächen wird beraten, welche Hilfe nach dem Sozialgesetzbuch infrage kommt.
- Für die Beantragung der Hilfe ist in Dortmund das Sozialamt zuständig. „Wendepunkt“ stellt den Kontakt her.
- Grundlage der vollstationären Hilfe ist ein Hilfeplan, der unter Beteiligung des Kostenträgers Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) erstellt und regelmäßig fortgeschrieben wird.
- Haupt- und Co-Betreuer legen in Abstimmung mit dem Betreuten fest, wo sie Hilfe brauchen, etwa beim Wohnen, Arbeiten, bei der Sicherung zum Lebensunterhalt, Gesundheit sowie bei sozialen Beziehungen.
- Der „Wendepunkt“ holt die jungen Leute da ab, wo sie stehen.
Stellvertretende Leiterin der Dortmunder Stadtredaktion - Seit April 1983 Redakteurin in der Dortmunder Stadtredaktion der Ruhr Nachrichten. Dort zuständig unter anderem für Kommunalpolitik. 1981 Magisterabschluss an der Universität Bochum (Anglistik, Amerikanistik, Romanistik).
