
© Peter Bandermann (Archiv)
Elend und Polizeieinsätze an der Drehscheibe der Bahn
Problematische Sicherheit am Dortmunder Hauptbahnhof
Armut, Elend, Alkohol, Drogen, Pöbeleien, Ladendiebstähle, Gewalt und Polizeieinsätze - der Dortmunder Hauptbahnhof ist mehr als eine Drehscheibe im Nah- und Fernverkehr. Wer dort arbeitet, muss Probleme aushalten können. Angestellte berichten von Angst. Wir haben mit Betroffenen gesprochen.
Nach einem Bericht über die Arbeit der Bundespolizei haben Einzelhändler und Gastronomie-Betreiber eine Debatte über die Zustände am Dortmunder Hauptbahnhof angestoßen. Nicht alle wollen sich öffentlich äußern, um Ärger mit der Deutschen Bahn als Vermieter der Ladenlokale zu vermeiden. Gesprächspartner für diese Recherche waren
- Wirtschaftsingenieur Axel Kirsch von McDonalds
- Bundespolizei, Landespolizei und Stadt Dortmund
- Deutsche Bahn AG
- Drogenberatungsstelle Dortmund
- René (19) aus Gelsenkirchen
- Reisende
- Verkäuferinnen
Die Ausgangslage: Was ist da los?
Der Dortmunder Hauptbahnhof ist eine wichtige Drehscheibe für den nationalen und internationalen Fernverkehr sowie für den Regionalverkehr in NRW. Das Bahnhofsgebäude ist alt, die Infrastruktur schlecht. Die Deutsche Bahn AG modernisiert den Bahnhof im laufenden Betrieb. Zugleich ist der Hauptbahnhof ein Treffpunkt. Für Angestellte und Arbeiter als Dienstleister. Für normale Reisende und Berufspendler. Für Dortmund-Touristen. Für Einkaufskunden. Für Obdachlose. Für Trinker. Für Drogenkonsumenten. Verschiedene Interessen prallen aufeinander.

Der Dortmunder Hauptbahnhof ist eine wichtige Verbindung im nationalen und internationalen Bahnverkehr. © Peter Bandermann
Das führt zu Konflikten: Alkohol- und Drogenkonsumenten treten teils aggressiv auf. Sie tragen Konflikte auf dem Vorplatz, in der Bahnhofshalle, in Geschäften und in der Gastronomie aus. Angestellte, Bundespolizei und der Sicherheitsdienst der Bahn berichten von teils gefährlichen Situationen. Zum Gesamtbild gehört auch die Information, dass Reisende den Bahnhof völlig unbehelligt nutzen können, wenn sie dort einkaufen oder auf den Zug warten. Der Dortmunder Hauptbahnhof versinkt nicht im Chaos. Hier die Perspektiven unserer Gesprächspartner:
Axel Kirsch, McDonalds links neben dem Haupteingang:
„Hier ist es richtig heftig“ - so zitiert Axel Kirsch den Sicherheitsbeauftragten für McDonalds Deutschland, der bundesweit alle 70 Bahnhofs-Standorte des Unternehmens im Blick hat. Dortmund fällt dabei negativ auf. Der Standort am Hauptbahnhof ist unter den 12 Betrieben des Franchiseunternehmens „der mit Abstand unbeliebteste Standort“. Axel Kirsch: „Zweimal im Monat haben wir schwere Vorfälle im Betrieb. Dazu kommen sechs bis acht mittelschwere Vorfälle. Unsere Mitarbeiter haben die strikte Anweisung, sich herauszuhalten, um sich selbst nicht zu gefährden, und die Polizei anzurufen.“ Die Kirsch GmbH investiert pro Jahr mindestens 20.000 bis 25.000 Euro für Sicherheitsdienste. Das sind Ausgaben, die das Betriebsergebnis belasten. Gegen den Protest seiner Mitarbeiter hat Axel Kirsch die Präsenz der Sicherheitsdienste zurückgefahren. Er fordert die Deutsche Bahn auf, mehr für seine und die Sicherheit der anderen Pächter zu tun. „Wir zahlen 18.000 Euro an Umlagen im Jahr an die Immobilien-Tochter der Bahn. Auch für die Sicherheit. Aber die Bahn unternimmt nicht genug.“ Axel Kirschs Angestellte kommen mit Angst zur Arbeit, haben bereits gekündigt oder um Versetzungen gebeten. Auch Kunden beschweren sich über die Zustände. Anders als an anderen Mc-Donalds-Standorten in Deutschland gehen die Zahlen in der Filiale am Dortmunder Hauptbahnhof seit mehreren Jahren zurück. Axel Kirsch erkennt große Not unter Obdachlosen, Trinkern, Drogenkonsumenten und Jugend-Cliquen auf der einen Seite und fehlende Angebote auf der anderen Seite. „Die Probleme haben sich verstärkt. Die Hemmschwelle für Gewalt ist gesunken. Seit 2015 / 2016 konzentriert sich die Sozialarbeit auf das Thema Flucht - der Dortmunder Hauptbahnhof wird vernachlässigt.“

Axel Kirsch berichtet von mehreren Zwischenfällen pro Monat in seinem Restaurant am Dortmunder Hauptbahnhof. © Peter Bandermann
Welche Eindrücke liefert das Internet?
Wir haben auf unserer Facebook-Seite um Meinungen gebeten. Das Stimmungsbild ist nicht repräsentativ, aber es spiegelt einen Trend: Viele Bahnhofs-Nutzer fühlen sich unsicher. Sie nennen Schmuddelecken und beklagen aggressives Betteln. In den Abendstunden meiden sie den Bahnhof. Einige wenige Kommentare lassen darauf schließen, dass ihre Verfasser überhaupt keine Probleme sehen. Wir haben einmal durchgezählt: Verunsichert reagieren auf die Zustände nicht nur Frauen. Fast die Hälfte der Kommentatoren mit Negativ-Einträgen ist männlich.
Was sagen andere Angestellte, die im Bahnhof arbeiten?
Sie möchten nur anonym sprechen, weil sie Angst vor einem Übergriff haben, falls sie erkennbar sind, oder keinen Ärger mit dem Chef haben möchten. Eine Kassiererin berichtet, dass es in schlechten Zeiten „dreimal pro Woche im Laden rappelt“. Ein Zugbegleiter schildert seine Arbeit im Regionalexpress an Rhein und Ruhr so: „Ich mache diesen Job seit 15 Jahren. Wenn ich in den Tagdiensten nicht die vielen guten Kontakte zu normalen und sehr freundlichen Kunden hätte, hätte ich den Job längst gekündigt. Aber nachts an den Wochenenden, das ist die Hölle. Ärger mit Schwarzfahrern gab es vor 15 Jahren schon, aber da konntest du in einer Diskussion schon erkennen, dass es schwierig wird. Jetzt wird nicht mehr diskutiert. Jetzt springt dir der Typ ohne Vorwarnung an die Gurgel.“
Volker Stall, Bundespolizeiinspektion Dortmund:
„Wir erleben eine Eskalation von einer Sekunde auf die andere. Es gibt unmittelbare Angriffe auf uns und andere ohne erkennbaren Grund. Das sind Leute mit einer sehr kurzen Zündschnur. Da wird nicht mehr groß diskutiert. Da ist sofort Gewalt im Spiel.“ Wie kann eine Dienstschicht bei der Bundespolizei in Dortmund aussehen? Hier eine Übersicht über die Einsatzlage vom 1. Juni 2018 (von 00.01 bis 21.55 Uhr):
- 00:30 Uhr Identitätsfeststellung nach Beförderungserschleichung im ICE 949
- 00:35 Uhr 12-jähriger Junge ausgeschrieben zur Ingewahrsamnahme
- 02:24 Uhr Fahndung nach gefährlicher Körperverletzung am Busbahnhof
- 04:59 Uhr Aufbruchalarm Fahrausweisautomat Haltepunkt Nette/Oestrich
- 09:25 Uhr Ladendiebstahl Drogeriemarkt
- 12:35 Uhr Ingewahrsamnahme eines 15-Jährigen aus Coesfeld
- 15:07 Uhr Ingewahrsamnahme einer Frau nach Suizidäußerungen
- 15:09 Uhr Schwarzfahrer und unerlaubter Aufenthalt im ICE 2094
- 16:26 Uhr Bewaffneter Schwarzfahrer
- 17:59 Uhr Einsatzmaßnahmen Anreise Reggae Summer Festival
- 19:53 Uhr Schwarzfahrer
- 20:29 Uhr Ladendiebstahl Drogeriemarkt
- 21:18 Uhr Betrunkener Mann stürzt aus Zug. Erste Hilfe.
- 21:24 Uhr Randalierer im Zug erbricht vor Reisenden
- 21:38 Uhr DB-Sicherheitsdienst bittet um Unterstützung
- 21:55 Uhr 14-Jähriger in Gefahr nach Drogenkonsum
Bei 23 Straftaten allein am Hauptbahnhof ging es für die Bundespolizei um Diebstahl, Schwarzfahren, Betrug, Unterschlagung, Beleidigung, Volksverhetzung, gefährliche Körperverletzung, Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, Verstöße gegen das Waffengesetz und Verunreinigungen.
Kim Ben Freigang, Polizei Dortmund
„Am Bahnhofsvorplatz gibt es eine Szene. Wir sind mit Zivilkräften und mit dem Ordnungsamt der Stadt Dortmund unterwegs. Der Königswall ist in der Einflugschneise unserer Wache Mitte - wir sind mehrmals täglich dort, treffen Maßnahmen und sprechen Platzverweise aus. Eine besondere Problemlage können wir nicht erkennen. Ich selbst bin Pendler und kann die negativen Eindrücke der Leute aber durchaus nachvollziehen, was am Erscheinungsbild des Bahnhofs liegt.“
Pressestelle Deutsche Bahn AG, Düsseldorf:
Die Bahn registriert eine steil ansteigende Zahl von Übergriffen auf das eigene Personal in NRW. Die Zahlen für Gesamt-NRW spiegeln sich auch in Dortmund wider und sie folgen einem Trend deutschlandweit. NRW-Zahlen:
- 2015: 350 Übergriffe
- 2016: 450 Übergriffe
- 2017: 550 Übergriffe
Inzwischen bietet die Deutsche Bahn ihren Zugbegleitern und dem Sicherheitsdienst intensive Deeskalationstrainings und nach Gewalterfahrungen und Bedrohungen auch psychologische Hilfe an. „Die meisten Angriffe ereignen sich bei Fahrausweiskontrollen und bei Fußballspielen“, berichtet ein Bahnsprecher. Typische Übergriffe sind:
- Beleidigen
- Spucken
- Rempeln
- Schwere Körperverletzung bis zur Arbeitsunfähigkeit
Für die mehr als 40.000 Mitarbeiter mit Kundenkontakt baut die Deutsche Bahn AG die Schulungsprogramme für Deeskalation und Eigensicherung aus. Inzwischen trainieren die Mitarbeiter auch Selbstverteidigung. Sie sollen Situationen richtig einschätzen und deeskalieren können und sich selbst nicht in unnötige Gefahr bringen. Nach und nach erhalten die Sicherheitsdienste auch „Bodycams“, um gefährliche Situationen filmen zu können. 3000 von 4000 Sicherheitsmitarbeitern haben bereits Pfefferspraygeräte erhalten. Die Mitarbeiter tragen auch Stichschutzwesten, weil aggressive Personen mit Messern bewaffnet sind.
Maximilian Löchter, Stadt Dortmund:
Die Stadt Dortmund ist mit ihrem Ordnungsdienst regelmäßig am Hauptbahnhof aktiv. Die Streifen werden sowohl uniformiert und in ziviler Kleidung durchgeführt. Durch die uniformierte Präsenz soll das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger gesteigert und gefestigt werden. Der kommunale Ordnungsdienst hat bei seinen Einsätzen am Hauptbahnhof ein besonderes Augenmerk auf Verstöße gegen die ordnungsbehördliche Verordnung der Stadt Dortmund. Vorrangig sind dies Verstöße wie das aggressive Betteln, das Urinieren in der Öffentlichkeit oder auch das Lagern und Campieren auf öffentlicher Wegefläche. Darüber hinaus finden regelmäßige gemeinsame Streifen mit der Polizei im Bereich des Hauptbahnhofes statt.
Wolfram Schulte, Drogenberatungsstelle Dortmund:
„Wir haben schon in den 1990er-Jahren am Platz von Leeds gesagt: Wenn wir eine Szene verdrängen, wird sie an anderer Stelle auftauchen. Am Hauptbahnhof sehen wir die Parallelen. Gibt es Druck am Hauptbahnhof, wechselt die Szene an die Katharinentreppe oder zum Fußballmuseum, wo gerade kein Druck ist. Die Leute gehen dann da hin, wo der Widerstand am geringsten ist.“ Auch dort gab es bereits Beschwerden. Die Drogenberatungsstelle arbeitet mit Menschen, die nicht nur unter einem Suchtproblem leiden. Dazu kommen soziale und psychische Probleme. Aktuell hat sich an der Katharinenstraße eine Jugendszene etabliert, die sich an Wochenenden in Dortmund aufhält. Wolfram Schulte: „Das ist ein ganz bestimmter Wochenend-Tourismus einer besonderen Szene. Man kommt aus unterschiedlichen Städten und Dörfern und kennt sich untereinander. Man trifft in Dortmund Gleichgesinnte, die es im eigenen Dorf nicht gibt. Als Oberzentrum zieht Dortmund eben nicht nur Einkaufskunden oder Konzerthausbesucher an, sondern auch Menschen aus Subkulturen und Menschen mit Multiproblemlagen.“ Der Dortmunder Hauptbahnhof liege zentral und biete eine gute Infrastruktur fürs Betteln und für Alkohol. Der Bahnhof sei auf den Sicherheitskonferenzen immer wieder ein Thema. Dortmund sei für eine Drogenszene auch deshalb interessant, weil es hier in einem kleinteiligen System gute Hilfsangebote gebe. Der Hauptbahnhof ist für viele Jahre eine Baustelle. Wolfram Schultes Vorschlag: „Wir müssen uns überlegen, wie wir parallel zu dieser Baustelle weitere Angebote für diese Menschen schaffen. Denn die Zahl der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit Suchtproblemen auf der Straße leben, steigt.“ Platzverweise würden keine Auswirkungen zeigen. „Diese jungen Leute werden weiter betteln. Denn sie brauchen Geld.“

Wolfram Schulte leitet die Dortmunder Drogenberatungsstelle. © Peter Bandermann
René (19) aus Gelsenkirchen:
„Der Bahnhof ist ein Treffpunkt für viele, die sonst nicht wissen, wo sie sich treffen können. Sie haben Probleme, zuhause oder mit Drogen. Ich stamme eigentlich aus Gelsenkirchen. Meine Mutter hat mich rausgeschmissen. Weil ich 19 bin, ist das Jugendamt für mich nicht zuständig. Also lebe ich auf der Straße. Mal hier. Mal da. Heute bin ich in Dortmund, um hier einen Schlafplatz zu finden. Denn: Welcher Mieter nimmt einen 19-jährigen Obdachlosen? Viele kennen sich untereinander. Manche gehen schnell. Andere kommen immer wieder. Ich bin hier vom Bahnhofsbereich abhängig, weil ich kein Handy habe und hier Kontakte finde. Man kann hier Geld verdienen durchs Schnorren. Ich schnorre hier eigentlich gar nicht. Man kann 10 Euro verdienen und auch viel mehr. Kommt immer darauf an, was gerade los ist. Weil hier viele untereinander Stress haben, es laut ist und ausartet, will man die Leute hier loswerden. Manche verbringen aber ihr Leben hier. Das gibt dann Probleme. Ich kann die Beschwerden teilweise nachvollziehen, wenn ich überlege, was hier schon alles passiert ist. Aber eigentlich muss kein Passant Angst haben. Das hier sind eher interne Konflikte, die nicht nach außen getragen werden, aber von außen gesehen werden. Der Druck von der Polizei oder von den Sicherheitsdiensten stört viele gar nicht mehr.“
Jahrgang 1967, geboren in Barop. Aufgewachsen auf einem Sportplatz beim DJK TuS Körne als Torwart. Lebt jetzt im Loh. Fährt gerne Motorrad. Seit 1988 bei den Ruhr Nachrichten. Themen: Polizei, Feuerwehr und alles, was die Großstadt sonst noch so hergibt. Mag multimediales Arbeiten. 2015 ausgezeichnet mit der "Goldenen Viktoria" für Pressefreiheit.
