
© Ekkehard Roepert
Junge Obdachlose: So hart ist das Leben auf Dortmunds Straßen
Armut
Dutzende junge Obdachlose leben auf Dortmunds Straßen. Was das bedeutet, haben uns sechs von ihnen erzählt: Ein Blick ins Leben von Joko, Shark, Steve, Sandro, Vera und Gonzo.
Viele betteln, indem sie Passanten einen Pappbecher entgegenstecken. Andere sagen Sätze wie: „Haben Sie noch was für ein Abendessen übrig?“ Wie viele Menschen auf Dortmunder Straße leben, weiß niemand zu sagen, von 350 spricht die Stadt auf Anfrage unserer Redaktion offiziell. Dutzende davon sind jung, haben noch einen Gutteil des Lebens vor sich. Vor 32 Jahren hatten die Sozialpolitiker beschlossen, den entwurzelten Jugendlichen Streetworker zur Seite zu stellen. Schon damals wussten die Verantwortlichen nur, dass es eine „nicht unerhebliche Anzahl“ Bedürftiger gibt, wie es in einer Broschüre („30 Jahre Streetwork“) der Stadt Dortmund heißt. Auch heute gehören junge Obdachlose in Dortmund zum täglichen Straßenbild. Die Frage nach dem Warum scheint endlos komplex. Wir haben mit sechs von Hunderten gesprochen, die Bescheid wissen.
Shark (18):
„Mit 17 fing es an“, sagt der junge Mann, der sich Shark nennt. Und nach kurzem Nachdenken: „Aber eigentlich geht es ins sechste Lebensjahr zurück.“ Schon damals sei ihm klar geworden, dass er mit seinem Vater keinen Kontakt haben wollte. „Mein Vater ist ein Rechtsradikaler.“ Mit sechs Jahren sei er zum Jugendamt gegangen, sagt Shark. „Mit dem „Jugendamtstyp bin ich bis heute in Kontakt.“
Früh begann für den heute 18-Jährigen das Leben in Wohngruppen. Shark wurde Punk. „Mit zwölf Jahren hatte ich einen Konflikt mit einem Betreuer“, erinnert er sich. Bei diesem einen blieb es nicht.
Wenn Shark erzählt, kommt immer wieder das Wort „Krisensituation“ vor. Probeweise zog er vom Rand des Ruhrgebietes in eine Wohngruppe nach Dortmund. „Es gab Stress mit dem Betreuer“ – und nach dieser „Krisensituation“ ging er im April 2018 auf die Straße.
Seine Nächte verbringt er seitdem in Jugendschlafstellen. Hilfe sucht sich Shark zum Beispiel bei dem gemeinnützigen Verein Dock 16, der sich um entwurzelte Jugendliche kümmert. „Ansonsten bin ich am Dortmunder Hauptbahnhof, wo alle gestrandet sind.“ Dort besteht der Tag aus „ein bisschen Schnorren“ und „auch mal ein Bierchen trinken“.
Dennoch: Shark ist überzeugt, dass sein Leben vor der Wende zum Guten steht. Er habe Kontakt zu seiner Mutter aufgenommen und „alles geregelt“, um demnächst in eine Wohnung zu ziehen und als Gerüstbauer zu arbeiten. „Ich denke oft dran, dass es positiv ausgeht.“
Steve (20) und Jako (16):
Steve und sein Halbbruder, der als „Jako“ angesprochen werden will, leben seit zwei Jahren auf der Straße. Jako? „Ja, wie die Sportklamotten-Marke.“
Wo seine Mutter sei? „Ist schon weg.“ Jako schaut in den Himmel. Vor zwei Jahren ist die Mutter von Steve und Jako an einem Herzinfarkt gestorben. „Meine Mutter war tot, ich dachte: Scheiße, ich kack ab“, erinnert sich Steve.
Sein Vater habe eine „Drogengeschichte“, erzählt der 16-jährige Jako. Zum Vater wollte und durfte er nicht - „es gab einen Gerichtsbeschluss“. Außerdem habe er „die Schule verkackt, aufs Übelste“, sagt Jako. Also gingen er und Steve auf die Straße.
„Ich bin mit offenen Armen aufgenommen worden“, erinnert sich Jako. Doch schnell ging´s bergab - „in den Drogensumpf“. Den 15. Geburtstag verbrachte Jako wegen Körperverletzung im Knast. Aus dem Drogensumpf ist er bis heute nicht raus. „Alle mögliche Substanzen“ habe er probiert, erst seit einer Woche sei er „von der Chemie weg“. „Meine Freundin sagt, wenn ich nicht clean bin, darf ich nicht bei ihr übernachten.“ Kiffen sei aber okay, auch aus der Sicht der Freundin. „Kiffen ist lecker“.
Gonzo (28) und Vera (17):
Wer hinter dem Bahnhof bei der Dortmunder Anlaufstelle für „junge Wohnungslose“ in der Leopoldstraße vorbeischaut, trifft auf viele Menschen, die nicht mehr als Jugendliche gelten können. „Die meisten, die auf der Straße leben, sind wie Kinder“, sagt der 28-Jährige, der sich den Namen Gonzo gegeben hat. Am Vormittag steht er vor dem Hauptbahnhof. Neun Jahre lang habe er in Dortmund auf der Straße gelebt. „Man muss den Arsch hochkriegen“ sagt Gonzo. Die Bundeswehr habe ihn gerettet. Während er mit jungen Obdachlosen im Kreis steht, biegen acht Polizei-Busse auf den Bahnhofsplatz ein. „Mir wird’s zu blau-weiß“, sagt Gonzo, „gehen wir zur BM“.
Die Abkürzung steht für Bahnhofsmission. Hier gibt’s umsonst Kaffee. „Aber es ist nur ein Schicht erlaubt“, erklärt Gonzo. Daher stehen viele vor der Tür. „Das sind Kinder, alle wie sie hier sind. Ich auch manchmal“, sagt Gonzo. Er begrüßt Vera (Namen von der Redaktion geändert), die ihn überschwänglich umarmt. Die 17-Jährige sagt, sie komme gern zum Bahnhof. „Hier stehen immer Jungs hinter mir, die nehmen mich direkt in Schutz“.
Mit dreieinhalb Jahren sei sie aus der Familie ihres Stiefvaters rausgeholt worden; der habe ihr den Arm gebrochen und sie eingesperrt. Heute lebt sie in einer Pflegefamilie. „Mein Pflegevater ist mein eigentlicher Vater“, sagt Vera. Ihr eigener Vater, der sei obdachlos gewesen. „Die Winter waren damals ziemlich kalt.“ Aber ihr Vater habe es geschafft. Wie? „Mein Vater wurde auf Linie gebracht“, sagt Vera. „Anders geht es nicht“, stimmt Gonzo zu. „Es hilft nur ein Tritt in den Arsch.“
Auch er sei so von der Straße weggekommen. Er lebt in einer Wohnung und habe einen Job in der Security in Aussicht. „Das Wichtigste ist, die Finger von der Chemie zu lassen“, sagt Gonzo. „Wenn das Verlangen danach zu groß wird, dann kiff ich mir einen mehr rein als sonst.“
Schlägereien gegen Langeweile
Wenn nur die Langeweile nicht wäre. „Es gibt gar nix zu tun“, sagt Steve, „wenn ich Geld hätte, würde ich einkaufen.“ Gonzo: „Ich tigere von hier nach dort. Manchmal bis nach Recklinghausen.“ Jako bevorzugt das „Chillen mit Kollegen“. Aber es gebe auch „viele Straßenschlägereien“. Jako deutet auf seine Nase. „Kopfnuss auf Nase, Nase schief“, schildert er den entscheidenden Moment. „Ich hab ihm vier Bomben gegeben.“ Der Arzt machte Jako Klammern in die Nase. „Die sind immer noch drin, ich hab’s vercheckt“.
Sandro (17):
Mit Schlägen ins Gesicht wurde auch Sandro am Sonntagabend (19.Mai) auf dem Hansa-Platz traktiert. Zusammengekauert liegt Sandro auf einer Steinbank neben dem Brunnen. Ein älterer Obdachloser schreit ihn an und schlägt immer wieder brutal zu. Nachdem der Schläger vertrieben ist, bittet Sandro verängstigt um Begleitschutz bis zur Jugendschlafstelle. Warum er nicht um Hilfe gerufen oder sich gewehrt habe? „Was soll ich tun, ich bin 17 und er ist 42.“
Vorher seien sie Freunde gewesen, bis „die Perle“ des Älteren dazwischenkam. „Er sagt, wegen mir hat ihn seine Perle verlassen. Deswegen hat er mich geschlagen. Theoretisch hat er sogar Recht.“
Während Sandro redet, kreuzt ein anderer junger Obdachloser den Weg. „Was ist los, Sandro?“ Der Freund verspricht, ihn zur Unterkunft zu bringen. „Ich kümmere mich um den Jungen.“