Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 6. Juli 2024, rund einen Monat nach der Europawahl. Wir haben das Stimmungsbild und den vor Ort Besuch von damals anlässlich der Bundestagswahlen, die am 23. Februar 2025 stattfinden, erneut veröffentlicht. Zeitliche Referenzen innerhalb des Textes wurden nicht aktualisiert.
„Zehn“, sagt Axel Kunstmann und schüttelt mit dem Kopf. „Gerade einmal zehn.“ Er kann es nicht fassen. Immer noch nicht. Dabei liegt die Europawahl inzwischen gut zwei Wochen zurück. Kunstmanns Entsetzen über das Ergebnis ist aber immer noch so groß wie an dem Wahlsonntag Anfang Juni: „45 Prozent für die AfD und 10 für die Grünen“, wiederholt er einmal mehr, macht eine Pause und guckt sein Gegenüber prüfend an. So wie es ein Witze-Erzähler macht, der nicht sicher ist, ob sein Zuhörer die Pointe verstanden hat. „Nicht zehn Prozent“, sagt er schließlich, „sondern zehn Stimmen“. Niemand lacht.
Axel Kunstmann (71) ist einer der Gründungsväter der Grünen im Jahr 1980. Und er ist der erste Bezirksbürgermeister von Mengede mit grünem Parteibuch. Möglicherweise wird er auch vorerst der letzte bleiben. Denn seit dem schicksalhaften 9. Juni muss er sich fragen, ob er die knapp 40.000 Menschen aus den Ortsteilen Bodelschwingh, Groppenbruch, Mengede, Mengeder Heide, Nette, Oestrich, Schwieringhausen und Westerfilde tatsächlich noch repräsentiert. Die Leute hier im Wahlkreis 40106 östlich der Straßenbahntrasse durch die Großwohnsiedlung Wattenscheidskamp augenscheinlich nicht mehr.
Die Sonne brennt vom Himmel. Der Platz vor der Kita, die zwei Wochen zuvor Wahllokal war, hat sich schon am Vormittag aufgeheizt. So wie die Stimmung im Quartier. Auch wenn es die biederen Rüschengardinen hinter den Fenstern der Mehrfamilienhäuser und die akkurat gestutzten Grasflächen davor nicht vermuten lassen: Hier wohnen Revoluzzer. Das Gros der Menschen in diesem Bezirk ist gegen das System. Gegen die sogenannten demokratischen Eliten, zu denen sie Kunstmann zählen dürften. Sie wollen radikale Veränderungen. Dafür haben hier 45,3 Prozent der AfD die Stimme gegeben und 9 Prozent dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): zusammen eine komfortable absolute Mehrheit.
Uneins über Ukraine-Krieg
Gehört die Seniorin mit der silbernen Dauerwelle dazu? Sie schleppt gerade zwei Einkaufstaschen aus dem kleinen Supermarkt Wostok, gleich neben der Kita. „Tut mir leid“, sagt sie und blinzelt in die Sonne: „Kein Deutsch.“ Die Frau ist Spätaussiedlerin, wie so viele hier, auch die blonde Kassiererin drinnen. Sie zieht Packungen mit Buchweizen und Gläser mit Moskauer Gurken und abchasischen Tomaten-Meerrettich über den Scanner und plaudert dabei mit einer Kundin auf Russisch. Deutsch spricht sie ebenfalls fließend, hat aber keine Zeit für ein Interview. Vermutlich auch keine Lust. Dass sie nach Wahlen erklären sollen, warum sie russischen Medien mehr vertrauen als deutschen und Putin lieber mögen als Selenskyj kennen sie hier schon aus den Vorjahren. AfD und BSW fragen so etwas nicht. Sie verstehen das - und bleiben demonstrativ weg, als der ukrainische Präsident zwei Tage nach der Europawahl im Bundestag spricht, um für die Luftverteidigung im immer verzweifelter werdenden Krieg gegen Russland zu werben.
Bürde aus den 1960er-Jahren
Die Kita Wattenscheidskamp ist ein Einzelfall. Noch. Denn auch wenn in keinem der anderen 385 Dortmunder Wahllokale so extrem abgestimmt wurde wie dort, hat der Populismus insgesamt Auftrieb bekommen. Nur auf den ersten Blick scheint die SPD in Dortmund genauso wie in anderen Revierstädten noch vergleichsweise glimpflich davongekommen zu sein. Bundesweit reichte es für die SPD mit 13,9 Prozent der Stimmen lediglich für Platz drei hinter CDU und AfD. In der Ruhrmetropole kam sie noch auf Platz zwei. Allerdings nur, weil die Grünen um beinahe zehn Punkte abstürzten. Eine Klatsche - auch in Scharnhorst-Ost.

Der Stadtteil war Ende der 1960er-Jahre aus dem Boden gestampft worden. Äcker und Weiden mussten Platz machen für Plattenbauten: Im Hauruck-Verfahren entstanden Wohnungen für 12.500 Industriearbeiter mit ihren Familien: eine neue SPD-Hochburg und ein sozialer Brennpunkt. Geblieben davon ist nur der Brennpunkt. Die Ursachen für diese fatale Entwicklung hätten viele bis heute noch nicht verstanden, meint Prof. Dierk Borstel, Politikwissenschaftler von der Fachhochschule Dortmund.
Durch die Arbeit geprägte Stadtteile wie Scharnhorst hätten in der jungen Bundesrepublik das Bild vom Ruhrgebiet als der Herzkammer der Sozialdemokratie geprägt mit zwei unterschiedlichem Bevölkerungsgruppen innerhalb der Arbeiterschicht: solche, die arbeiteten, weil sie genau das wollten, „und solche, die eigentlich mehr Ressourcen hatten, aber wegen der damaligen Undurchlässigkeit des Bildungssystems einfach nicht herauskamen“. Malocher und verhinderte Akademiker Tür an Tür.
„Toxische Desintegration“
Sobald Abitur und Studium nicht mehr vom Geldbeutel abhängig waren, nutzten die Aufstiegswilligen die Chance und zogen weg - meisten in Richtung Süden, auf die andere Seite der Autobahn, wie Borstel sagt. Den Vierteln ging damit die bisherige Vielfalt der Talente, das produktive Zusammenspiel von Machern und Mitmachern, verloren. „Gleichzeitig kamen viele Menschen aus aller Herren Welt, um hier zu arbeiten - zu einer Zeit, als die Arbeit immer weniger wurde und Integrationskurse ein Fremdwort waren. Der soziale Sprengstoff, aus dem die Nordstädte des Ruhrgebiets sind. Der Wissenschaftler spricht von „toxischer Desintegration“.
Zurück in die Scharnhorster Wahlkabinen: Trennten bei der Europawahl 2019 die SPD und die Union noch zehn Prozentpunkte, lagen sie jetzt nahezu gleichauf - jeweils nur zwei Punkte vor der AfD. Die Rechtsaußenpartei erzielte in keinem der anderen elf Stadtbezirke ein so stattliches Ergebnis: 21,15 Prozent, noch knapp vor dem aus Mengede (20 Prozent). Eine, die das ausdrücklich begrüßt, ist Daniela (36).
Der Ruf nach einer starken Hand
Sie ist am Sonntag mit ihrer dreijährigen Tochter im Einkaufszentrum Scharnhorst (EKS) unterwegs: diese Mini-Flaniermeile mit Geschäften, Eisdielen und Lokalen. Tagsüber sei das schön, sagt die gebürtige Nürnbergerin, die 2019 nach Scharnhorst gezogen ist. Nachts würde sie das aber unbedingt vermeiden, dort entlang zu gehen - aus Angst vor „lauten, rücksichtslosen ausländischen Jugendlichen“. Aber wer das so offen sage, fügt sie hinzu, „gilt ja sofort als Rassist“, Da fühle sie sich von der AfD besser verstanden. Was Daniela nicht weiß: Die Übergriffe sind sehr wohl ein Thema. Erst zwei Monate zuvor hatte die Polizei die Kriminalitätsstatistik veröffentlicht und dort Schwerpunkteinsätze gegen Jugendkriminalität in Scharnhorst aufgeführt. Die Bande, die hier 2023 ihr Unwesen trieb, gilt inzwischen als aufgelöst. Das Gefühl der Unsicherheit ist aber offenbar geblieben. Der Ruf nach einer starken Hand auch. Dabei kümmern sich längst andere. Eine verzerrte Wahrnehmung, die es nicht nur hier gibt.

Neue „Kleine-Leute-Partei“?
Die AfD trete zunehmend als „Partei der kleinen Leute“ auf, sagt Extremismusforscher Borstel: „Ein Witz“. Umgekehrt werde ein Schuh daraus. Das Wirtschaftsprogramm der selbst ernannten Alternative für Deutschland sei ausgesprochen neoliberal: etwa gegen Anhebung von Mindestlöhnen für Steuersenkungen für Besserverdienende. Dennoch: Gerade Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die einst traditionell bei der SPD ihr Kreuzchen machten, fühlen sich jetzt bei der AfD zuhause. Zwar hatte die extrem rechte Partei in Dortmund den größten Zustrom aus dem Lager der Nichtwählerinnen, nahezu halb so viele wechselten aber auch von der SPD zu ihr, darunter auch Gewerkschafter. Sie alle treibt Abstiegsängste um. Andere haben dagegen längst aufgegeben.
Armut killt Wahlbeteiligung
In der Nordstadt, wo laut städtischem Sozialbericht von 2018 nahezu jeder Zweite Transferleistungen vom Staat bezieht, hat die Mehrheit erst gar nicht mehr Gebrauch gemacht von ihrem Wahlrecht. Gerade einmal 40 Prozent der Wahlberechtigten gaben dort ihre Stimme ab. Das passt zu den Erkenntnissen des Mainzer Politikwissenschaftlers Prof. Armin Schäfer. Auf die Forschungsfrage „Wer fehlt an der Wahlurne“ hat er 2023 zwei Antworten: Erstens: Je ärmer ein Wahlkreis ist, desto weniger Menschen gehen zur Wahl. Und zweitens: Die Schere bei der Wahlbeteiligung ist seit den 1970er-Jahren deutlich weiter auseinandergegangen. Das bestätigt ein Blick in den wohlhabenderen Dortmunder Süden, wo die Wahlbeteiligung deutlich über dem Durchschnitt liegt.
Schweigen über große Themen
Auch für Agnes (61) aus Mengede ist das Wählen Bürgerpflicht. Das Abwählen ebenfalls. Die Parteien der Ampelregierung seien für sie durchgefallen, sagt die zierliche Frau, während sie auf dem Parkplatz am Markt ihre Einkäufe in den Kofferraum packt. „Alles läuft in die völlig falsche Richtung.“ Nein, die Entwicklung ihres Stadtbezirks meine sie nicht. Im Gegenteil: „Ich wohne hier gerne.“ Aber das werde kippen, wenn immer mehr Geflüchtete kämen, fürchtet sie: ein Problem, das die AfD erkannt habe. Agnes hält inne mit dem Verstauen der Tüten und wirft einen herausfordernden Blick nach oben. „Auch wenn die Medien die AfD die ganze Zeit verteufeln.“ Dass der Verfassungsschutz die Partei zu Recht in Gänze als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft hat, wie erst vor wenigen Wochen gerichtlich geprüft wurde, ändert nichts an ihrer Meinung. Das werde alles nicht objektiv dargestellt, sagt sie bitter und lässt die Kofferraumklappe ins Schloss fallen.
Agnes ist keine Ausnahme. 33 Prozent der Bevölkerung werten Fragen rund um Migration, Asyl und Ausländer als wichtigstes gesellschaftliches Problem - weit vor Energie/Klima und Wirtschaft. Das hat die Forschungsgruppe Wahlen just rund um den Wahlsonntag so erhoben. Ausgerechnet dieses Thema, das die meisten für wichtig befinden, halten bürgerlichen Parteien aber lieber klein - vielleicht aus Sorge, Ressentiments zu wecken oder von der falschen Seite beklatscht zu werden. Andere übernehmen die Deutungshoheit.

Sorge um gemeinsame Faktenbasis
„Uns fehlt zunehmend dieselbe Grundlage“, sagt Dierk Borstel. Darin sehe er „eigentlich die größte Gefahr“. Dass den Menschen gerade die Grundlage des Streits um die beste Lösung - nichts anderes ist Politik - abhandenkomme: gemeinsam geteilte Fakten. „Da ist der Moment, wo Demokratie keine Chance mehr hat, weil man dann mit völlig unterschiedlichen Bildern aufeinandertrifft.“ Jeder nehme nur noch das für sich wahr, „was sich am besten für ihn anfühlt“. Das habe sich bei Corona schon abgezeichnet. Wenn das so weitergehe, sagt Borstel, „dann wird es dramatisch. Dann sind wir zurück im Mittelalter: beim Glauben.“
Obwohl: So ganz ohne Glauben scheint es in der Politik auch nicht zu gehen, Kanzler Olaf Scholz forderte erst bei seiner Regierungserklärung am Mittwoch (26. 6.), an eine gute Zukunft zu glauben, gerade auch angesichts des Erstarkens der Extremisten und Populisten. „Wir müssen dort, wo Zuversicht fehlt, sie neu begründen.“ Wie, ließ er offen. Ausgerechnet in Westerfilde, wenige Schritte von der Kita mit dem AfD-Spitzenergebnis, zeigt sich, dass Scholz recht haben könnte.
Biergarten für die Demokratie
Mosselde 58 lautet die Adresse: ein verputztes Haus mit Parkplatz, das auf den ersten Blick gar nicht zu seinem Namen passen will: „Im schönen Wiesengrund“ steht an der Fassade. Erst, wer die Gastwirtschaft durchquert und hinten wieder hinaustritt, versteht den Namen. Ein grüner Biergarten mit alten Obstbäumen erstreckt sich bis an den Rand des Naturschutzgebietes Mastbruch: eine Oase der Geselligkeit, die eigentlich schon verschwunden wäre, hätte es nicht Dolf Mehring (68) und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter - in der Spitze bis zu 500 Leute - gegeben.
Sie hatten 2019 eine Bürgerinitiative gegründet, als bekannt wurde, dass das Restaurant mit Saal und Kegelbahnen Platz machen sollte für neue Wohnhäuser - auch im grünen Biergarten. Profit statt Kneipe: „Wir waren aus allen Wolken gefallen“, sagt Mehring und fährt auch fünf Jahre später noch mit beiden Händen aufgeregt durch die Luft. Was dann passierte, kann als Illustration für das dienen, was die Autoren der 2023 erschienen Studie „Demokratievertrauen in Krisenzeiten“ der Friedrich-Ebert-Stiftung geschrieben haben.

Es gelte „Orte der Begegnungen“ zu schaffen und „Gestaltungsmöglichkeiten“ zu bieten, ist dort zu lesen. So ließen sich die „in der heutigen ,Gesellschaft der Singularitäten‘ zu beobachtenden Abschottungs-Tendenzen der verschiedenen sozialen Milieus eindämmen“. Den Kampf für die Traditionskneipe konnte nur glücken, weil Dolf Mehring und die anderen ihre unterschiedlichen Talente einbrachten und sich mit weiteren Akteuren - vor allem dem Wohnungsbauunternehmen Vonovia - vernetzten. Und weil sie auch dann noch weitermachten, als zwar Verkauf und Abriss abgewendet waren, aber Corona nur Minimalbetrieb erlaubte.
Herausforderung Klimaziele
Der pensionierte Jugendamtsleiter von Bochum sitzt am Gartentisch und fällt in entspannten Plauderton. Inzwischen habe der langjährige Wirt den Schönen Wiesengrund gekauft. Er und die anderen könnten sich wieder getrost auf Bier und Grillteller konzentrieren, eigentlich. Denn das reicht ihnen nicht mehr. Aus der BI ist ein Stammtisch geworden. „Wir kümmern uns um Themen, die gerade anstehen.“
Die Autoren der Studie würden von gelebter Demokratie sprechen, der Basis, um sich anderen drängenden Aufgaben zu stellen: etwa dem Erreichen der Klimaziele - Anstrengungen, die die AfD indes völlig unsinnig findet. Sie fordert Deutschlands Ausstieg aus allen Klimaabkommen, da der menschliche Einfluss auf das Klima - dem großen wissenschaftlichen Konsens zum Trotz - umstritten sei.

Axel Kunstmann fällt es gerade schwer, ähnliche Freude zu versprühen beim Gestalten des Gemeinwesens wie Mehring im Biergarten zwei Straßen weiter. Und das liegt nicht am Fehlen kühler Getränke an diesem heißen Vormittag. „Ich bin ratlos“, räumt der Kommunalpolitiker ein, der im Hauptberuf Lehrer ist und auch mit 71 Jahren immer noch gerne unterrichtet, zurzeit in Brambauer: etwas, das er leidenschaftlich gerne macht. So hätte er das bis vor Kurzem auch über die Kommunalpolitik gesagt. Doch jetzt scheint er da gerade nicht mehr so sicher zu sein. „Hier tut sich doch was“, sagt er: Grünflächen, Spielplätze, der neue Salz- und Pfeffer-Fußweg, Mitmachaktionen des Quartiersmanagements und vor allem auch die Sanierung der einst so heruntergekommenen Großwohnsiedlung aus den 1970er-Jahren durch die neuen Eigentümer. „Und trotz allem so ein Wahlergebnis.“ Wieder dieses ungläubige Kopfschütteln.
Stumm geht der Bezirksbürgermeister weiter. Auf der Höhe der Bushaltestelle Wattenscheidskamp spricht ihn eine ältere Frau an mit russischem Akzent. „Entschuldigung, wie viel Uhr ist es?“ Kunstmann blickt aufs Handgelenk. „11.38 Uhr“, sagt er. Sie strahlt. „Dann ist es noch nicht zu spät.“ Nein, nicht für den nächsten Bus in vier Minuten. Und auch nicht für die nächste Wahl in 14 Monaten.
AfD-Hochburg in Dortmund: Fast 50 Prozent wählen rechtsgerichtete Partei
AfD-Hochburg in Dortmund zur Europawahl: Stehen Wähler weiter loyal zu Putin?
Erneut prangt AfD-Banner auf Dortmunder Denkmal: Jetzt distanziert sich Traditionsfamilie
„Mit Lust gegen Frust“ - Axel Kunstmann lebt altes Motto: Dortmunder Bezirksbürgermeister wird 70