Beim Blick auf die schmale Piste entlang der Marmolata wusste Ingrid Hamel: „Ich fahre mit der Gondel runter.“ Die Abfahrt am höchsten Berg der Dolomiten hätte sie sich im Leben nicht zugetraut. Über die anderen Sportstudenten, die den Berg auf schmalen Skiern herunterglitten, staunte sie. Einen von ihnen – sein Name war Wilfried – lernte sie beim Après-Ski in der Sonne Italiens besser kennen.
Ihr gefiel, wie sportlich der junge Mann war. Ein guter Skiläufer. Ein noch besserer Tennisspieler und Leichtathlet. Sie mochte, wie Wilfried die Dinge immer auf den Punkt brachte. Er habe einen realistischen Blick auf die Welt gehabt und ihn in den Jahrzehnten als Sportlehrer in Castrop-Rauxel immer behalten.
Bis heute sind sie unzertrennlich. Selbst, wenn Wilfried im Alter von 76 Jahren läuft „wie ein 105-Jähriger“. Das sagt er selbst über sich. Seine Beine, auf denen er als junger Mann waghalsig den Marmolata herunterfuhr, kann Hamel nur noch schwer anheben. Er hat Parkinson.

Ein sportlicher Junge
Sport hat der ehemalige Sportlehrer immer schon geliebt – vor allem, wenn Bälle im Spiel waren. Als Junge spielte er in einer Fußballmannschaft. Früh übte er sich in der Leichtathletik.
„Ein kleines Kaff“ nennt er Krankenhagen, seine Heimat. Zusammen mit seiner Schwester wurde er im Stadtteil von Rinteln in Niedersachsen bei seinen Eltern groß. Seine Mutter war Hausfrau, sein Vater Kriegsversehrter. Er wurde später als SPD-Politiker zum Bürgermeister des Stadtteils gewählt.
Zur Bundeswehr musste Wilfried Hamel nicht. Für Kinder von Kriegsversehrten gab es eine besondere Regel. Folgerichtig war die Entscheidung für das Sportstudium in Bochum: Seine Schwester lebte in Dortmund. Eine ganze Weile wohnten die Geschwister zusammen. Die Skifreizeit in Italien gehörte zum Studium. Dass er dort Ingrid, Studentin einer anderen Sporthochschule, kennenlernte, war ein Glücksfall.
Wenn sie freihatten, boten sie damals Kurse an. Kinderturnen, Leichtathletik in den Ferien, Sportabzeichen, Fußball-Training: „Jeden Tag ging es ab nach Pöppinghausen, Geld verdienen“, erinnern sie sich heute.
Wilfried, der Familienmensch
„Meine Eltern hätten es gerne gesehen, wenn ich nach dem Studium wieder zurück nach Niedersachsen komme“, sagt der heute 76-Jährige. Sie hatten ein Haus und ein großes Grundstück, auf dem Hilfe gebraucht wurde. Doch der Sohn entschied sich, im Ruhrgebiet zu bleiben. „Du hast aber trotzdem immer sehr viel geholfen, an den Wochenenden“, sagt seine Frau zu ihm. Er nickt bescheiden. Eigenlob oder große Reden sind nicht sein Ding.
1972 heirateten die beiden Sportler. Der Ehemann nahm eine Stelle an der damaligen Realschule in Ickern an. In Sport und Erdkunde lehrte er die Klassen 5 bis 10. Als seine Frau ihre gemeinsame Tochter Alexandra zur Welt brachte, war Wilfried Hamel überglücklich. Der Unterstützung ihrer Mutter war es zu verdanken, dass beide gleich nach der Elternzeit wieder arbeiten konnten – er an der Realschule, sie am Berufskolleg.
Später, als die Zeit der Ickerner Realschule sich dem Ende neigte, wechselte er an die Willy-Brandt-Gesamtschule. Tausende Castrop-Rauxeler Schüler hat er unterrichtet. Manche von ihnen trifft er heute noch beim Spazierengehen. Dann grüßen sie ihn. „Hallo, Herr Hamel! Kennen Sie mich noch?“ Auf seinen schlurfenden Gang sprechen ihn nur Wenige an.
Der Lehrer hat das Sagen
Sein Beruf, da ist Hamel sich sicher, passte zu ihm. Besonders beim Sport konnte er eine Verbindung zu den Jugendlichen aufbauen. Vollen Einsatz forderte er von seinen Schülern. „Es gab Kinder, die konnten Übungen vielleicht nicht so ausführen, wie ich mir das gedacht hatte. Und wie sie sich das auch selbst gedacht hatten. Dann habe ich immer gesagt: Ich muss erkennen können, dass du dich anstrengst. Ich muss sehen, wie du weitermachst und alles gibst. Man musste in meinem Unterricht schon erkennen können, wer das Sagen hatte und wer nicht.“
Er habe den Spitznamen von Felix Magath, „Schleifer“, gemocht. Magath war im Profifußball dafür bekannt, seinen Spielern beim Training besonders viel abzuverlangen. Die Stufen der Tribüne eines alten Fußballstadions fand auch Hamel perfekt für Ausdauer-Einheiten mit Medizinball.
Diagnose Parkinson
„Wir wollten viel Reisen im Ruhestand“, sagt Ingrid Hamel. Sie sitzt neben ihrem Mann am Küchentisch. Beide sind begeistert von den deutschen Meeren, Inseln und Tennisplätzen jeder Art. „Wir wollten öfter ans Meer. Und im Winter nach Österreich in den Schnee.“ Doch kurz nach dem Renteneintritt kam die Krankheit. Zuerst schleppend, dann mit Macht. Ein Orthopäde erkannte es 2021 als Erstes: Wilfried Hamel hat Parkinson.
Die neurodegenerative Krankheit hat zig verschiedene Formen. Sie beeinträchtigt die Muskelfunktion und damit die Bewegungen. Rasante Skiabfahrten und Jahrzehnte auf dem Tennisplatz: Für ihn sind sie Geschichte. Hamel bewegt sich heute vorsichtig durch seine Wohnung, übersteigt mit Bedacht die kleine Kante an der Tür zum Balkon. Im Vorbeigehen grüßt er die beiden Wellensittiche. Sie zwitschern.
„Am Anfang wurde das mit meinem Gang noch auf das schlechte Knie geschoben“, erzählt er. Seine Sprachmelodie ist langsam und bedacht. Andere Symptome sind dazugekommen. Die Reaktionen sind verlangsamt. Der Oberkörper ist oft nach vorn geneigt. Arme und Hände wirken versteift.
„Ich sage ihm immer: Geh gerade. Guck in die Welt – nicht auf den Boden. Es soll ja auch nicht schlimmer werden“, sagt seine Frau. „Ja“, sagt ihr Mann. „Aber wenn ich auf den Boden gucke, sehe ich eher den Backstein, der hochsteht, über den ich fallen könnte.“

Halluzinationen und Tabletten
Seit der Parkinson-Diagnose nimmt Hamel Medikamente. Auf jeder Verpackung stehen Nebenwirkungen. „Und die habe ich alle mitgenommen.“ Das transdermale Pflaster, das er zu Beginn trug, juckte auf der Haut. Sie entzündete sich. Er muss bestimmte Mengen an Wasser trinken. „Dazu kommt dann ein großer Haufen von Pillen.“
Zwischenzeitlich litt er unter starken Halluzinationen, die wiederum Ängste hervorriefen. Im Schlaf bewegte er die versteiften Arme teilweise unkontrolliert. Als er wegen eines gebrochenen Wirbels im Krankenhaus lag, büxte er aus. Jetzt sind die Halluzinationen fast weg. Die Medikation ist besser eingestellt. Nur wenn er sich gedanklich zu sehr auf die Vergangenheit fokussiert, kommen wieder Momente, die an diese Zeit erinnern. „Dann komme ich aber schnell wieder in die Realität“, sagt er.
Sport hilft immer noch
Sport macht der Mann trotz allem weiter. Seit einigen Monaten spielt er Tischtennis bei Ping Pong Parkinson. Sein ehemaliger Schüler Michael Horn hat die Gruppe für Spieler mit Parkinson-Erkrankung im September 2024 beim Post SV Castrop-Rauxel gegründet. Über einen Zeitungsartikel ist Hamel darauf gestoßen. Er gehörte zu den frühesten Mitgliedern. „Viele wissenschaftliche Studien haben inzwischen gezeigt, dass Tischtennisspielen einen positiven Effekt auf Parkinson-Patienten haben kann“, weiß Horn. Außerdem könnten sich die Mitglieder gegenseitig verstehen und Kraft geben: „Es ist eine Art Selbsthilfegruppe in Bewegung.“
Am Tisch, wenn der Ball auf ihn zufliegt, beschreibt Hamel, kommen die Bewegungen von Arm und Handgelenk wie von allein – dann sei alles im Fluss. Er lächelt, wenn er davon erzählt. „Als ich zum ersten Mal zugeschaut habe, dachte ich: Das ist doch nicht der Wilfried“, erzählt seine Ehefrau. „Seine Bewegungen sahen total normal aus; in dem Moment an der Platte hinter dem Ball her. Er war ein ganz anderer Mensch.“
In einem kranken Körper, der früher viele Tennisturniere bestritt, steckt immer noch der Geist eines Wettkämpfers. Schon mehrmals kam es vor, dass er beim Versuch, noch an den Ball zu kommen, ins Straucheln geriet und zu Boden fiel.

Lebensfroh trotz Parkinson
Die Leute mit den weißen Kitteln hätten ihm gesagt, dass er nicht an Parkinson sterben werde. Die Krankheit an sich sei nicht direkt lebensbedrohlich. Der 76-Jährige kämpft aber dagegen an, dass seine Symptome schlimmer werden. Außer Tischtennis helfen Massagen vom Physiotherapeuten.
Außerdem macht er fleißig Übungen. Mit den Armen zieht er Gummibänder auseinander: „Das habe ich ganz gut drauf.“ Und er macht „Gleichgewichtsübungen ohne Ende“. Das Reisen hat er dagegen tendenziell aufgegeben. Auch, weil er es nicht mag, weit von seinem Arzt entfernt zu sein. An schöne Orte fährt er aber heute noch gern, um spazieren zu gehen. Wenn ihn dabei alte Schüler ansprechen, dann freut er sich.
„Man muss sich damit arrangieren“, sagt Ingrid Hamel. Die Krankheit habe vieles verändert, sagt ihr Mann, doch erlebten sie immer noch schöne Momente zusammen. Wilfried Hamels Tochter Alexandra ist Grundschullehrerin geworden. Sie hat ihm und seiner Frau einen Enkel beschert. Simon ist 17 Jahre alt und kommt zweimal pro Woche bei seinen Großeltern vorbei.
Was das Ehepaar in den kommenden Jahren vorhat? „Tja, das kann man gar nicht so richtig planen“, sagt Ingrid Hamel. Die Gesundheit sei bei Planungen immer mit großer Priorität mitzudenken. „Was wir machen, ist eher spontan.“
Sicher ist wohl nur eins: Der Tischtennisschläger bleibt, solange es geht. Es muss ja nicht immer die Marmolata sein...