„Mama, ich habe Angst, dass ich die Realschule nicht schaffe“ Folgen des Schulplatz-Mangels

Ohne Empfehlung an die Realschule: Folge des Schulplatz-Mangels
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Sorgenvoll blickt Amela Bilgin auf die nächsten Schuljahre ihres Sohnes. Malik ist zehn Jahre alt. Nach den Sommerferien kommt er in die fünfte Klasse. Seine Grundschule hat für ihn laut seiner Mutter eine Haupt- oder Gesamtschule empfohlen. An diesen Schulformen gab es in Castrop-Rauxel aber keinen Platz für Malik. Eine Hauptschule gibt es in der Stadt nicht mehr. Beide Gesamtschulen sind voll. Mangels Alternativen haben seine Eltern Malik nun an der Fridtjof-Nansen-Realschule (FNR) angemeldet – entgegen der Empfehlung der Grundschule. „Mama, ich habe Angst, dass ich die Realschule nicht schaffe“, habe ihr Sohn einmal zu ihr gesagt, erzählt Amela Bilgin. Auch sie selbst denke darüber nach. Schließlich könne man nicht wissen, wie er sich in dem neuen Umfeld entwickeln werde.

Praktisch dasselbe erzählt Daniela Stürznickel. Ihr zehnjähriger Sohn Liam wird nach den Sommerferien ebenfalls ohne die entsprechende Empfehlung an die FNR wechseln. Die beiden Mütter sind enttäuscht. Das Losverfahren an den Gesamtschulen hat gegen ihre Söhne entschieden. Verantwortlich für den Schulplatzmangel sei aus ihrer Sicht in erster Linie die Stadtverwaltung und deren Schulmanagement der vergangenen Jahre, sagt Bilgin. „Es brennt. Warum macht die Stadt nichts?“

Der Eingang zur Neuen Gesamtschule Ickern.
Der Eingang zur Neuen Gesamtschule Ickern. 135 baldige Fünftklässler konnten hier angenommen werden. 48 Kinder mussten dagegen abgelehnt werden. © Tewe Schefer

Platzmangel bestimmt Schulwahl

Die Neue Gesamtschule Ickern (NGI) und die Willy-Brandt-Gesamtschule sind bis auf den letzten Platz besetzt. Allein an der NGI wurden 48 Kinder abgewiesen. Malik und Liam gehören dazu.

Den Eltern der beiden Jungen blieben nach der Absage kaum Alternativen. Sie konnten ihre Kinder an der Realschule anmelden, oder nach Schulplätzen in umliegenden Städten suchen können. Bei der zweiten Option wären die Schulwege für ihre Kinder aus Sicht der Eltern nur schwer jeden Tag zu bewältigen. Zudem wäre es als Pendler schwer, Freundschaften zu pflegen. „Wenn sich die anderen Kinder nach der Schule treffen, kann man nicht immer einfach dabei sein“, sagt Stürznickel. „Man ist außen vor.“ Allzu weite Wege wollten die beiden Mütter ihren Kindern nicht zumuten. Bilgin kontaktierte Schulen in Waltrop und Recklinghausen. Auch dort seien die Kapazitäten erschöpft gewesen. Malik sei auf der Warteliste gelandet. Eine Privatschule kam nicht infrage. Also blieb nur die Realschule.

Ein Junge, der ebenfalls zur Gesamtschule in Ickern wollte, steht mit seiner Mutter Yvonne vor dem Eingang zu der Schule. Auch er hat hier keinen Platz bekommen.
Robin Iosub, der ebenfalls zur Gesamtschule in Ickern wollte, steht mit seiner Mutter Yvonne vor dem Eingang zu der Schule. Auch er hat hier keinen Platz bekommen. © Tewe Schefer

Hadern mit der Ablehnung

Die Sorge, dass es die falsche Schule für ihre Söhne sein könnte, teilen die beiden Mütter. Es könnte alles gut gehen. Die Jungs könnten sich an der Realschule zurechtfinden. Es könnte aber auch sein, dass sie nach den ersten zwei Jahren, die an vielen weiterführenden Schulen als Erprobungszeit gelten, erneut die Schule und damit das soziale Umfeld wechseln müssen. „Mit individueller Förderung hat das jedenfalls nichts mehr zu tun“, sagt Amela Bilgin. „Die Stadt ruiniert die Zukunft meines Sohnes und vieler anderer Kinder.“

Es sei einem Zehnjährigen schwer zu vermitteln, wieso andere Kinder an der Realschule angenommen werden und er nicht, sagt Daniela Stürznickel. Liam habe sie mehrmals gefragt, ob es an ihm liege. „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Dann habe sie ihm stets erklärt, dass er rein gar nichts falsch gemacht habe. Schon jetzt habe sie einen Antrag gestellt, um Anspruch auf Nachhilfeunterricht für ihren Sohn zu organisieren – für die erste Zeit an der Realschule.

Widerspruch scheint aussichtslos

Amela Bilgin hat Ende Februar mithilfe des Castrop-Rauxeler Rechtsanwalts Jürgen Wischnewski Widerspruch gegen die Ablehnung ihres Kindes an der NGI eingelegt. „Für die Eltern und Schüler ist die Situation eine mittlere Katastrophe“, sagt Wischnewski mit Blick auf diesen Fall. Bisher sei der Widerspruch mitsamt Aufforderung zur Stellungnahme von der Schule noch nicht beantwortet worden. Eine realistische Erfolgsaussicht hätte er laut Wischnewski wohl nur, wenn nachzuweisen wäre, dass die festgelegten Abläufe und Kriterien, nach denen Schulplätze vergeben werden, in diesem Fall nicht eingehalten wurden. Die Wahrscheinlichkeit darauf schätze er „nicht sehr hoch“ ein. Bilgin findet es trotzdem wichtig, Widerspruch einzulegen. „Dann kann ich meinem Sohn sagen, dass ich alles versucht habe.“

„Kämpfen für Kinder in der Stadt“

Amela Bilgin, Daniela Stürznickel und mehrere andere Elternteile von Schülern in Castrop-Rauxel legen den Finger in die Wunde und kritisieren die Stadt hart. Sie drängen auf Veränderungen, insbesondere auf den Aufbau von Schulplätzen in ausreichender Zahl. „Wir kämpfen auch für die anderen Kinder in der Stadt. Selbst wenn das dieses Jahr noch nichts verändern sollte, möchten wir für zukünftige Jahrgänge etwas bewirken“, sagt Bilgin.

Regina Kleff ist Erste Beigeordnete der Stadt Castrop-Rauxel.
Regina Kleff ist Erste Beigeordnete der Stadt Castrop-Rauxel. © Stadt Castrop-Rauxel

Stellungnahme der Stadt

Kürzlich wendete sich unsere Redaktion mit schriftlichen Fragen bezüglich der Sorgen vieler Eltern über den Schulplatzmangel an die Stadtverwaltung. Elf Tage vergingen bis zur Antwort aus dem Rathaus. Die Erste Beigeordnete Regina Kleff – zu ihrem Ressort gehören unter anderem Schule, Familie und Soziales – wolle uns zu diesem Zeitpunkt kein Interview zu dem Thema geben. Das habe mit Zuständigkeiten zu tun. Bezüglich der weiteren Schulentwicklungsplanung werde gerade das Anwahlverhalten analysiert, genauso wie die kurz- und mittelfristige Entwicklung der Anzahl von Schülerinnen und Schülern, teilte die Pressestelle mit.

Nicht nur in Castrop-Rauxel sei Schulentwicklungsplanung ein hochdynamischer Prozess. „Die Stadt ist dabei in engem Austausch mit der Bezirksregierung und berät interfraktionell, um eine tragfähige, solide Lösung in möglichst ‚atmenden Systemen‘ zu entwickeln.“ Die Konzepte, an denen die Stadt offenbar arbeitet, werden zumindest für das kommende Schuljahr aber zu spät kommen.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 10. April 2025.