Es muss um 2014 oder 2016 gewesen sein: Irgendwann in diesem Zeitraum kippte ein Mehrfamilienhaus in Castrop-Rauxel direkt an der Bundesstraße B235 gelegen mit seinen 14 Wohnungen in einen Abwärtsstrudel. Der nahm seinen vorläufigen Stopp mit dem Auszug der letzten Bewohner im Herbst 2024. Das Haus war im Frühjahr von der Stadt für unbewohnbar erklärt worden. Der Ausfall der Zentralheizung war letztlich ausschlaggebend.
Wittener Straße 331 und 329: ein Problemhaus in Castrop-Rauxel. Aber warum eigentlich? Was ist dort geschehen? Unsere Redaktion hat recherchiert, viele Gespräche geführt, Insider zu Wort kommen lassen. Viele beschuldigen den Haupteigentümer, der acht Wohnungen selbst besitzt und dessen Lebensgefährtin eine weitere. Mit neun Wohnungen sind die beiden Mehrheitseigentümer; vieles davon gekauft aus verschiedenen Zwangsversteigerungen. Sie bestimmen im Haus die Geschicke. Doch als wir Walter Kamann, einen Zahnarzt aus Münster, damit konfrontieren, sagt der praktisch das Gegenteil.
Für ihn, der eine Praxis in Münster führt und als Dozent an der renommierten Uni Witten/Herdecke einen Lehrstuhl hat, begann das Drama um das Haus vor zehn Jahren: Damals sei er noch dabei gewesen, mehr und mehr Wohnungen aus Versteigerungen anzukaufen. Dann aber zogen Mieter aus, und das betraf mehr als eine Wohnung: Es habe sich um türkischstämmige Familien gehandelt, die verwandt miteinander waren. „Sie sind alle in die Türkei gezogen“, sagt Kamann in einem ausführlichen Telefonat mit unserer Redaktion.
2016 habe er leer stehende Wohnungen entkernt, umfangreich saniert, die gelbe Fassade des Gebäudes streichen lassen. Die Stadt habe ihm damals aber gedroht: Sie werde die Wohnungen beschlagnahmen, wenn er sie leer stehen lasse, behauptet Walter Kamann. Das sei nötig angesichts der Wohnraum-Knappheit. „Meine Mieter sind mit wehenden Fahnen weggelaufen“, sagt er heute.
Armutsmigration aus schwierigsten Verhältnissen
Es kamen neue Leute in die Wohnungen. „Problemmieter“, sagt Kamann, „aus dem Roma-Umfeld“. Welcher Ethnie sie angehören, war für unsere Redaktion nicht zu recherchieren. Es ist auch nicht wichtig. Fest steht: Es handelte sich um Zuwanderer aus den damals neuen EU-Mitgliedsstaaten wie Rumänien. Stichwort: Armutsmigration. Menschen, die schwierigste Verhältnisse in Osteuropa verließen, um im Westen eine neue Zukunft zu finden. Familien, oft mit vielen Kindern, die Sozialleistungen erhielten, sich aber bei der Integration schwerer taten, weil ihre hergebrachten Lebensverhältnisse so ganz anders waren als die, die in Deutschland herrschen. Die Schulpflicht ist nur ein Beispiel.
Für Immobilienbesitzer Kamann begann damit der Niedergang des gesamten Hauses. Er will nicht ganz konkret werden bei unserer Nachfrage, wie viele Wohnungen oder Häuser er besitze, aber bei 100 bis 500 Wohnungen stimmt er zu: „Irgendwo in dem Bereich“, sagt er. Und damit wird klar: Das Haus Wittener Straße ist für ihn nur eines von vielen. Aber ein besonderes im negativen Sinne, das bestätigt er.
Seine Lebensgefährtin arbeitet als Rechtsanwältin. Sie ist zwar namentlich nur Eigentümerin einer Einzelwohnung in diesem Haus, aber damit rechtlich Teil der Eigentümergemeinschaft. Sie vertritt die Interessen von Kamann mit und zeigt wohl eine große Streitbereitschaft. Ob die beiden eher auf Kurs Angriff oder Verteidigung sind, ist neutral schwierig zu bewerten. Die einen sagen so, die anderen so.
„Ich habe 900.000 Euro verloren“
Kamann lacht einmal am Telefon, als wir ihn explizit fragen, wie viel Geld er in den vergangenen Jahren mit diesem Haus verdient habe: „Ich habe Geld verloren, rund 900.000 Euro“, behauptet der Zahnarzt. Das sei bei seinem Background nicht so dramatisch, er habe „einen langen Atem“ und sei „nicht erpressbar“. Er sagt: „Ich werde das Haus niemals verkaufen.“
Er werde sich gegen die Schädiger zur Wehr setzen. Aber zur Klärung brauche es noch abgeschlossene Prozesse und Urteile. „Lassen Sie uns in zwei Jahren noch mal sprechen“, sagt er unserer Redaktion. Es gehe um Strafrechts- wie Zivilrechtsprozesse, die sich gegen andere Eigentümer, aber auch Behörden, Verwaltung und Unternehmen richteten.

Sechs Jahre lang habe er beispielsweise die Gasrechnung aus der Zentralheizung für alle Eigentümer und Mieter bezahlt. Darum habe er 2024 damit Schluss gemacht: In einer Hauruck-Aktion soll er mal eine Wasseruhr einfach ausgebaut haben. Und die defekte Heizung ließ er nicht reparieren.
Jetzt, sagt Kamann, sei er jedenfalls froh, dass die Stadt das Haus aus diesem Grunde gesperrt habe: „So zahle ich wenigstens nichts mehr“, sagt er. „Und eine Zentralheizung werde ich auch nicht mehr einbauen; da gibt es inzwischen bessere Heizysteme, die Wohnung für Wohnung autark beheizen“, meint Kamann.
Das aber ist die Zukunft. Handwerks-Trupps, zuletzt einmal am Gebäude gesichtet, würden zurzeit nicht instandsetzen oder renovieren, sondern lediglich absichern. Verbarrikadieren will Kamann dabei nicht sagen, auch wenn die Sessel- und Sofa-Barrikade zur Hofeinfahrt zuletzt behelfsmäßig schon danach aussah. „Ich würde Ihnen jedenfalls nicht raten, das Gelände oder das Haus zu betreten“, sagt Kamann. Das könne zu Problemen führen. Ob man im Haus noch auf vermüllte Keller und Flure und andere problematische Verhältnisse stoßen würde, ist allerdings nicht klar.
Stadt engagierte sich für Familien
Nachprüfbar ist, dass sich der Bereich Migration und Obdachlose, aber auch die Frühen Hilfen der Stadt intensiv mit den dort lebenden Familien über Jahre hinweg beschäftigt haben. Tiefpunkt war aber das Einzäunen und Überwachen des Gebäudes in der Corona-Pandemie durch den Ordnungs- und einen privaten Sicherheitsdienst, weil sich die Bewohner nicht an Quarantäne-Maßnahmen hielten. So setzte die Stadt die Abschottung gegen ihren Willen durch.
Jetzt half die Stadt zum Teil auch dabei, neue Wohnungen zu finden, als das Haus geschlossen wurde.
Kamann spielt als Haupteigentümer immer wieder eine Rolle. Er sehe sich heute Forderungen vom EUV Stadtbetrieb für ausgebliebene Gebührenzahlungen gegenüber, die bei rund 200.000 bis 300.000 Euro lägen, behauptet er. Die Stadt selbst habe 300.000 Euro Mietschulden bei ihm. Er meint, bei diesem Thema gebe es einen Strafrechtsvorfall mit Bezug auf Urkundenfälschung. Den Nachweis will er gerichtlich noch bis zu einem Urteil führen. Auch das Jobcenter und das Unternehmen Gelsenwasser hätten Zahlungsvorgänge an ihm als Haupteigentümer vorbei abgewickelt. Er spricht von einem Betrag von 46.000 Euro.
Spätestens da kommen die ins Spiel, die Kamanns Handeln kritisieren. Alle tun es hinter vorgehaltener Hand. Viele sagen, dass mit dem Haupteigentümer und der Lebensgefährtin nicht zu spaßen sei. Eine Quelle meint, er sei gefährlich. Jedenfalls habe er nie Grundbesitzabgaben an die Stadt abgeführt.
Das System ausgenutzt
Gespräche mit verschiedenen Quellen ergeben: Der Haupteigentümer nutzte womöglich das System aus. Er habe sich nicht angemessen um sein Eigentum gekümmert, das laut Grundgesetz den Eigentümer auch verpflichte. Aus Transferleistungen beziehe er Mieteinkünfte, verweigere aber Gebührenzahlungen, berufe sich immer wieder im rechtlichen Klein-Klein auf Formfehler oder andere Versäumnisse, um ihnen zu entgehen. Er verhindere auch rechtlich vorgesehene Eigentümerversammlungen.
Andere Einzeleigentümer hätten zum Teil erstreiten müssen, überhaupt Gebühren und andere Rechnungen ohne die anderen Eigentümer bezahlen zu können oder dürfen, um einer Gas-, Wasser- oder Stromsperre zu entgehen. An Kamann vorbei, wie er beanstandet.
Hausverwaltungsgesellschaften kamen und gingen, weil sie im Zwist des Haupteigentümers mit den Versorgungsunternehmen, der Stadt und anderen Einzeleigentümern verzweifelten. Auch eine Notstands-Verwaltung, eingesetzt vom Amtsgericht, kam nicht weiter und war nach einigen Monaten wieder raus. Am Ende soll es die Stadt gewesen sein, die 2024 eine Eigentümerversammlung im Rathaus über das Mittel einer ordnungsbehördlichen Einladung ansetzte. Sie fand statt. Auch Kamann und seine Lebensgefährtin waren anwesend. Was dabei faktisch herauskam, ist nicht ganz klar. Aber sicher war das ein Schritt auf dem Weg zum Etappen-Ziel, das Haus zu schließen.

Miteigentümer würden „in unbeschreiblicher Weise unter Druck gesetzt“, sagt eine Insider-Quelle im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie bestätigt, dass die Mieterverhältnisse die Abwärtsspirale eingeleitet hätten. Aber danach gehen die Meinungen auseinander: Probleme mit einem externen Hausverwaltungsunternehmen wären die Folge gewesen; dann hätten die Haupteigentümer das selbst übernommen, aber es habe nie Versammlungen gegeben. Selbst die vom Gericht eingesetzte Zwangsverwaltung sei herausgemobbt worden.
All das sei Methode gewesen, unterstellen mehrere Gesprächspartner dem Haupteigentümer. Bruttomiete von der Stadt kassieren, aber gar keine Abgaben zahlen; gegen alle Abgabenbescheide klagen und alle möglichen juristischen Tricks anwenden, dass sich die Verfahren über die Jahre ziehen. „In dem Haus“, sagt eine Quelle, „waren 30 Menschen gemeldet, aber es wohnten dort phasenweise 70 Personen.“ Es sei ein Trauerspiel und das einzig gute sei, dass da nun kein Mensch mehr verunglücken könne.
Die Methode Müllsammeln
Die Bewohner selbst waren unstrittig auch Teil des Problems. Mit Transportern fuhren sie jahrelang durch die Stadt, sammelten Sperrmüll und anderen Schrott ein. „Alles wurde eingeladen, unter anderem auch die rund 200 Fahrräder, die man im Keller finden konnte – oder Reste davon“, erklärt die Quelle weiter. Der Müll wurde im oder am Haus, vornehmlich im Hof, sortiert. Verwertbares wurde im Schrotthandel zu Geld gemacht. Anderes blieb zum Teil einfach liegen.
Ob die Räumung und Schließung des Gebäudes nun wirklich reinen Tisch schafft, ist offen. Man habe es über Jahre vergeblich versucht, heißt es hinter vorgehaltener Hand; Sozialtransfers seien über die Mieter letztlich an den Vermieter geflossen, schlechte Lebensverhältnisse seien dafür die Gegenleistung gewesen. Man werde das Grundsatz-Problem nur los, wenn die Haupteigentümer Verantwortung übernehmen würden. Unklarheiten streuen, verzögern und widersprechen: Diese Methode sei für alle Beteiligten tödlich. „Wenn Menschen mit viel Geld gegen Menschen mit wenig Geld zivilrechtlich vorgehen, dann kann man sich schon ausrechnen, wer am Ende den längeren Atem hat und allein deshalb gewinnt“, sagt eine Quelle.
Es gebe ein unseliges Immobilien-Dreieck in der Stadt, sagt eine Insider-Quelle: Lange Straße 107, Ringstraße, Wittener Straße. Menschen zögen von hier nach da und wieder zurück.
Zweien dieser Sümpfe kam die Behörde nun bei: Lange Straße und Wittener Straße sind weitgehend „befriedet“, zumindest vorübergehend oder zum Teil. Ursächlich dabei ist auch der Arbeitskreis Problemimmobilien, den die Politik vor einigen Jahren forderte und auf Druck der CDU auch einsetzte. „Dadurch haben sich zum Teil Prioritäten im Rathaus verschoben“, sagt eine Quelle.
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