Vor einem Jahr wurde Jalal J. verurteilt Wie aus einem jungen Berufsschüler ein Terrorist wurde

Ein Jahr nach dem Urteil – Die Geschichte von Jalal J.
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Am 23. November 2023 gegen 14.30 Uhr sitzt ein junger Mann auf der Anklagebank am Landgericht Dortmund. Er wirkt unscheinbar, kurze dunkle Haare, einfache Kleidung. Nervös kaut er auf seiner Unterlippe herum. Gleich wird das Urteil gegen ihn gesprochen. Vier Jahre mit anschließender Sicherungsverwahrung warten auf ihn. Der Mann nimmt das Urteil hin, sichtlich geknickt. 26 Jahre ist Jalal J. alt, als er wegen der Planung eines islamistisch motivierten Terroranschlags ins Gefängnis muss. Aber wer ist dieser Mann, der mit seinen Plänen Castrop-Rauxel bundesweit in die Schlagzeilen gebracht hat?

Jalal J. stammt aus dem Iran. 2015 kommt er zusammen mit seinem älteren Bruder nach Deutschland. Für 1000 Euro soll ihn ein Schleuser bis nach Istanbul gebracht haben. 400 Euro soll dann die Überfahrt mit einem wackeligen Schiff nach Griechenland gekostet haben. Über verschiedene Stationen landet er erst in Dortmund und dann in Castrop-Rauxel. Immer wieder hat er nach der Flucht psychische Probleme. 2017 soll er einen Suizidversuch unternommen haben, so erzählt sein Bruder es Jahre später vor Gericht: „Er hatte die Schlinge schon um seinen Hals.“

Der Freiheitskämpfer

Hier trifft ihn im März 2018 Ruhr-Nachrichten-Reporter Tobias Weckenbrock. Er schreibt über drei junge Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind. Jalal J. ist einer von ihnen. Er hat damals nur seine Heimat – den Iran – im Kopf. Jalal erzählt, dass er aus der Region Ahwaz stammt. Dort werde man als Araber von der persischen Bevölkerung unterdrückt. Er sei seines Lebens nicht sicher, auch in Deutschland nicht, sagt er 2018.

Jalal J. im Berufskolleg Castrop-Rauxel im März 2018. Er war damals 20 Jahre alt und Teil der Internationalen Klassen, wollte im Handwerk Fuß fassen und für die Freiheit seiner Volksgruppe im Iran kämpfen.
Jalal J. im Berufskolleg Castrop-Rauxel im März 2018. Er war damals 20 Jahre alt und Teil der Internationalen Klassen, wollte im Handwerk Fuß fassen und für die Freiheit seiner Volksgruppe im Iran kämpfen. © Tobias Weckenbrock (2018)

Kurz vor seiner Flucht war er 17 Jahre alt. Er erzählt, dass er zu einer Gruppe Jugendlicher gehörte, die um Autonomie für Ahwaz kämpfte. Als ein Freund aus der Gruppe plötzlich verschwindet, wird es auch für Jalal J. brenzlig. Er hat Angst vor der iranischen Polizei. Seine Mutter soll ihm verboten haben zurück nach Hause zu kommen, ein Onkel versteckt ihn und soll schließlich auch die 1000 Euro für die Flucht nach Istanbul bezahlt haben.

Bei dem Gespräch mit unserem Reporter erzählt Jalal noch, er wolle Schreiner werden oder Tischler – und gleichzeitig für die Freiheit von Ahwaz kämpfen. Doch dazu kommt es nicht mehr.

Aggressionsprobleme

Am 1. Juli sitzt Jalal im Bus von Dortmund-Kirchlinde nach Castrop-Rauxel. Er ist betrunken und hat ein Bier dabei. Dem Busfahrer passt das überhaupt nicht, Alkoholkonsum ist in Bussen nicht erlaubt. Der Fahrer spricht Jalal an, aber der ignoriert ihn einfach oder bekommt das schon nicht mehr mit, das konnte vor Gericht nicht geklärt werden.

Wenige Minuten später eskaliert die Lage. Jalal hört nicht auf zu trinken. Der Busfahrer zieht die Reißleine. Er hält an und schmeißt den jungen Mann aus dem Bus. Jalal bleibt erstmal sitzen, doch der Fahrer bleibt hart. Irgendwann gibt Jalal auf und steigt wütend aus, während er den Fahrer lautstark beleidigt. So hat es der Busfahrer später vor Gericht erzählt.

Im Juli 2018 traf ein Astwerfer von einer Autobahnbrücke an der A45 herab das Auto einer 32-jährigen Castrop-Rauxelerin.
Im Juli 2018 traf ein Astwerfer von einer Autobahnbrücke an der A45 herab das Auto einer 32-jährigen Castrop-Rauxelerin. © von Braunschweig/Schütze

Was jetzt passiert, hat später das Gericht nach und nach konstruiert. Zeugen gibt es nicht und Jalal will sich an den gesamten Abend nicht mehr erinnern.

Jalal steht nach dem Rausschmiss mehrere Kilometer von seiner Wohnung in Castrop-Rauxel entfernt auf der Straße. Er läuft ziellos durch die Gegend, grob in die Richtung, in die auch der Bus fahren würde. Irgendwann steht er auf der Brücke, die die A45 überquert.

Ein paar Tage zuvor wurden an dieser Stelle Bäume gefällt und Büsche zurechtgeschnitten. Die abgeschnittenen Äste und Hölzer liegen noch neben der Brücke. Jalal nimmt sich einen großen Ast – 2,60 Meter lang und zehn Kilogramm schwer – und schleudert ihn einfach auf die Autobahn.

„Tat ist dumm und naiv“

Das Geschoss kracht direkt auf das Auto einer 32-jährigen Castrop-Rauxelerin. Die Windschutzscheibe bricht, es gibt einen lauten Knall. „Ich war völlig unvorbereitet. Von jetzt auf gleich war alles anders“, erzählt sie später den Ruhr Nachrichten. Sie schafft es, das Auto unter Kontrolle zu halten und sicher anzuhalten. Im ersten Moment merkt sie vor Schreck nicht mal, dass sie Splitter in den Händen und eine Verletzung am Fuß hat. Sie hat Angst, dass der Täter noch in der Nähe ist, doch Jalal J. ist bereits weg. „So eine Tat ist dumm und naiv. Das ist in keinster Weise lustig und ich verstehe nicht, wem die Täter damit etwas beweisen wollten“, erzählt die 32-Jährige damals. Jalal ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefasst, doch die Fahndung läuft auf Hochtouren.

An dem Ast wird Gen-Material gefunden. Auch der Busfahrer erinnert sich noch an seinen aggressiven Fahrgast. Jalal wird festgenommen. Der Fall ist klar. Anfang 2019 startet der Prozess am Dortmunder Schwurgericht. Jalal ist im Prozess störrisch und bockig. Gerichtsreporter Martin von Braunschweig erlebt ihn damals im Prozess: „Der war zutiefst misstrauisch und wirkte vor allem immer so, als würde er jeden Moment in die Luft gehen. Wirklich ein schwieriger Charakter.“

Am Ende haben die Richter auch ohne Geständnis keinen Zweifel an der Schuld von Jalal J. Er wird wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Haft verurteilt und soll dann in einer Entziehungsklinik untergebracht werden. Immer wieder ist er schon vorher durch kleinere Straftaten nach Alkoholkonsum aufgefallen. Durch die Klinik soll Jalal sein Alkoholproblem endlich in den Griff bekommen.

Großer Anti-Terror-Einsatz

Ende 2022 soll er eigentlich auf einem guten Weg sein – zumindest wirkt es nach außen so. Er lebt unter der Woche in einer Klinik in Hagen, am Wochenende darf er zu einem Bruder nach Castrop-Rauxel an die Lange Straße. Dort wird er im Januar 2023 bei einem großen Anti-Terror-Einsatz festgenommen. Spezialkräfte stürmen die Wohnung, Jalal und sein Bruder werden festgenommen. Es ist einer der größten Polizeieinsätze, die Castrop-Rauxel je erlebt hat.

Der Dortmunder Pflichtverteidiger Marco Ostmeyer an der Seite des Angeklagten Jalal J. Am 20. September 2023 ist der Prozess gegen den 26-jährigen Castrop-Rauxeler aus dem Iran gestartet.
Der Dortmunder Pflichtverteidiger Marco Ostmeyer an der Seite des Angeklagten Jalal J. Am 20. September 2023 ist der Prozess gegen den 26-jährigen Castrop-Rauxeler aus dem Iran gestartet. © Martin von Braunschweig

Ein Jahr vorher, Anfang 2022, fängt Jalal J. im Internet nach IS-Sympathisanten zu suchen, das erzählt er selbst vor Gericht. Er abonniert verschiedene Telegram-Kanäle, auf seinem Handy werden etliche Bilder und Videos gefunden, unter anderem von Hinrichtungen. Diese Videos will er allerdings nie geschaut haben, weil er kein Blut sehen kann.

Die Aussage passt nicht zu den Plänen des jungen Mannes. Jalal wollte einen Giftanschlag verüben. Auf seinem Telefon sollen sich Anleitungen zur Herstellung von Rizin und Cyanid befunden haben. Das Rezept für eine Bombe hat er von einem Kontaktmann beim IS bekommen. Dass die Anleitung komplett wertlos ist, weiß Jalal J. aber nicht.

Tiefe Frustration

Durch Aussagen von Freunden ergibt sich immer mehr das Bild eines jungen Mannes, der zerfressen vor Hass und Frustration immer weiter in die Radikalisierung abgleitet. „Er saß oft nur noch in seinem Zimmer und ließ niemanden mehr an sich heran“ und „Er war leicht beeinflussbar, ließ sich einfach manipulieren“, erklärt ein Zeuge aus der Einrichtung in Hagen vor Gericht. Es habe ihn frustriert, dass er nicht arbeiten oder sich eine eigene Wohnung nehmen durfte. Er habe keine Perspektive gehabt und sei deswegen immer weiter abgerutscht.

Spezialkräfte beim Terror-Einsatz in Castrop-Rauxel.
Spezialkräfte beim Terror-Einsatz in Castrop-Rauxel. © Ralf Deinl

Jalals Verteidiger Marco Ostmeyer hält den Iraner für sehr leicht zu beeinflussen. Er habe sich durch den Kontakt zum IS größer machen wollen als er eigentlich ist. Eine strenge Auslegung des Islam habe Jalal nie durchgezogen. Eine Islamwissenschaftlerin hat vor Gericht von einem „Lego-Islam“ gesprochen. Meint: Jalal hat sich nur das ausgesucht, was in sein Weltbild passt.

Der Angeklagte selbst ist immer dabei geblieben, dass er keinen Anschlag begehen wollte. „Ich habe nie vorgehabt, Menschen zu töten.“ Zur Begründung sagte der Iraner: „Wenn ich das gewollt hätte, dann hätte ich ein Messer genommen oder ein Auto - und nicht so eine komplizierte Sache mit Chemikalien.“ Der amerikanische Geheimdienst hätte ihn in eine Falle gelockt, erzählt er einem psychiatrischen Gutachter.

Anschlagsplanung für 2022

Aus den Chats, die im Prozess verlesen wurden, geht hervor, dass ein möglicher Anschlag für die Silvesternacht 2022 geplant war. Bis dahin hatte Jalal J. dann aber doch nicht alle erforderlichen Inhaltsstoffe beisammen. Er habe versucht, Eisenpulver in einem Baumarkt zu kaufen, müsse es jetzt aber in einem Online-Shop bestellen, schreibt der Iraner kurz vor dem Jahreswechsel seinem Chatpartner. Die Antwort des mutmaßlichen IS-Mannes: „Das ist kein Problem, mein Bruder. Dann finden wir eben einen anderen Tag.“ Diese Nachricht soll US-amerikanische Terrorfahnder alarmiert haben, die sich dann an die deutschen Sicherheitsbehörden gewandt haben.

Zum Thema

Was ist Sicherungsverwahrung?

Sicherungsverwahrung ist eine besondere Maßnahme, bei der Straftäter auch nach ihrer Haftstrafe in einer speziellen Einrichtung bleiben, wenn sie weiterhin als gefährlich für die Allgemeinheit gelten.

Das Ziel ist nicht Strafe, sondern Schutz: Die Person soll daran gehindert werden, weitere schwere Verbrechen zu begehen. Dabei leben die Betroffenen in weniger strengen Bedingungen als im normalen Gefängnis, aber sie bleiben trotzdem eingesperrt.

Dass Jalal mit seinen Zutaten niemandem schaden konnte, spielt für das Urteil keine Rolle. Was zählt, ist die Absicht. „Er war fest entschlossen, einen Terroranschlag zu verüben“, sagte der Vorsitzende Richter Dirk Kienitz in der Urteilsbegründung. Bis zuletzt habe Jalal daran geglaubt, dass er wirklich einen Anschlag verüben kann.

Mittlerweile sitzt Jalal J. seit einem Jahr in Haft, genauer in Sicherungsverwahrung. Möglicherweise könnte er nach einem Teil der Strafe abgeschoben werden, darüber wird in den kommenden Monaten üblicherweise verhandelt.