Er heißt Jalal J. Wir treffen ihn im März 2018 am Berufskolleg Castrop-Rauxel, wo er für seine Zukunft in Deutschland lernt. Er ist einer von drei jungen Leuten, zwei Männer, eine Frau, die wir porträtieren. Geflüchtete auf der Suche nach einer neuen Zukunft.
Heute wissen wir: Jalal J. hat es nicht geschafft, in eine gesellschaftlich vertretbare Bahn gelenkt zu werden. Er wurde 2019, viele Monate nach einem Astwurf auf die A45, wegen versuchten Mordes verurteilt. Nun soll er einen Terroranschlag geplant haben. 2018 sprachen wir mit ihm.
Jalals Gedanken, sagte er uns damals, seien nicht so sehr in seiner neuen Heimat, in die er mit seinem Bruder 2015 geflohen ist. Nicht in Deutschland, nicht in Castrop-Rauxel, sondern in Ahwaz. Im Iran. Eine unfreie Heimat, so sagte er es damals. Und: Er sei seines Lebens nicht sicher, auch in Deutschland nicht.
Jalal sei Araber, sagte er damals, kein Perser. Obwohl er aus dem Iran komme: aus der Grenzregion um die Millionenstadt Ahwaz, die zu der Zeit in die iranischen Verwaltungsprovinzen Khuzistan und Hormozgan aufgeteilt war. Es ist eine der an Rohstoffen reichsten Regionen der Welt, voll von Öl, im Ersten Golfkrieg (1980 bis 88) Ziel irakischer Angriffe und Eroberungsfeldzüge. Diese zerstörerische Zeit sei zwar vorbei, aber die Zeit des Leides, der Unterdrückung, der Ungleichbehandlung der Araber, die dort leben, nicht. Jalal sagte 2018, er kämpfe dagegen. Ein Kampf, in dem er nun zu einem „Bio-Bomber“ werden wollte, wie die „Bild“ jetzt schrieb?
Im Juli 2018 rastete er aus
Er galt schon damals als Mann, auf den man besonders achten sollte. Das war seinen Lehrerinnen 2018 klar, das wurde uns als Berichterstatter schnell klar. Und es brach sich schnell Bahn, als er nur wenige Monate nach unserem Treffen ausrastete.
Am 1. Juli 2018 war Jalal mit dem Bus in Dortmund-Kirchlinde unterwegs, trank währenddessen sein Bier. Der Busfahrer wies ihn an, die Flasche wegzupacken. Jalal J. wurde wütend, und er dann aus dem Bus geworfen. Auf seinem Fußweg nach Habinghorst packte sich der sportlich-kräftig gebaute Mann einen 2,60 Meter langen Ast und warf ihn in seiner Wut von einer Autobahnbrücke auf die Fahrbahn der A45. Der Ast traf das Auto einer Castrop-Rauxelerin, die zum Glück nur leicht verletzt wurde. Mit Freiheitskampf hat das rein gar nichts zu tun.
Unser Gerichtsreporter Martin von Braunschweig verfolgte 2019 den Prozess vor dem Landgericht, an dessen Ende Jalal J. zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Wegen versuchten Mordes, so das Urteil von damals. Bockig, kurze Zündschnur, uneinsichtig – so beurteilte ihn damals das Gericht.
Nach etwa anderthalb Jahren Haft ab Mitte 2019 kam Jalal J. in eine Therapie. Denn gerade dann, wenn er Alkohol trank, kippte seine Stimmung. Er rastete aus, drehte durch. Er wurde als alkoholkrank eingestuft und war zuletzt in einer Entziehungseinrichtung in Hagen-Volmetal.
Hinweise auf ein mögliches Doppelleben als Islamist, Terrorist oder Freiheitskämpfer in anderer Hinsicht habe es nicht gegeben, sagte nun die Staatsanwaltschaft. Oberstaatsanwalt Henner Kruse sagte jetzt gegenüber unserer Redaktion: „Die Ärzte haben uns gespiegelt, dass er gute Fortschritte gemacht hat.“ Darum war er in Hagen untergekommen, in einer etwas freieren Einrichtung mit „Übernachtungsstatus“: Jalal J. durfte am Wochenende woanders schlafen. So wie am Samstag bei seinem Bruder in Habinghorst.
Unterdrückte Menschen in Ahwaz
Sein Kampf um die „Freiheit“, wie Jalal J. 2018 sagte, bezöge sich aber allein auf die Heimat, auf Ahwaz. Er richte sich gegen das Mullah-Regime im Iran. „Wir sind ein Volk zwischen Iran und Irak“, erklärte er uns damals, ein Volk namens Ahwaz. „Unser König wurde in den 20er-Jahren getötet. Der Iran klaute uns unser Land, das bis 1925 als Emirat Reza Shah autonom war. Seit 93 Jahren gehört die Region zum Iran. Wir sind 13 Millionen Ahwazi und deutlich in der Überzahl gegenüber den Persern. 85 Prozent des iranischen Öls liegen unter unsere Erde. Die Iraner stehlen uns Arabern unsere Schätze. Die Perser, die aus Teheran gekommen sind, arbeiten in unserem Land. Wir Araber aber dürfen nicht arbeiten. Das ist mein Land! Das ist mein Volk! Ich will dort arbeiten, aber ich kann es nicht. Wir können nicht unsere Meinung sagen, dann werden wir ins Gefängnis gesteckt. Vielleicht werden wir umgebracht.“

Jalal war damals kein Vorkämpfer, zu jung war er bis zur Flucht 2015 im Alter von 17 Jahren. Aber er gehörte als Jugendlicher einer Gruppe an, die um Autonomie für Ahwaz kämpfte. Anfang 2015 besprühte er noch in seiner Heimat Mauern mit der ahwazischen Flagge, erzählte er uns. Die Ahwazi würden von der iranischen Regierung gezwungen, die Amtssprache Farsi (also Persisch) zu lernen und zu studieren. Für sie sei die Sprache fremd, viele seien Analphabeten, die Arbeitslosigkeit unter den dort lebenden Arabern sei hoch, wichtige Posten in der Verwaltung von Iranern besetzt.
Als ein Freund aus der Freiheits-Gruppe, Mussa Sherifi, verschwunden sei, womöglich von der iranischen Polizei verhaftet, soll Jalals Mutter ihm in einem Telefonat verboten haben, nach Hause zurückzukehren. Sein Onkel versteckte ihn damals drei Monate lang. Dann flüchtete er über Schleuser für 1000 Euro bis nach Istanbul. Weitere 1000 Euro hatte ihm sein Onkel für die weitere Flucht zugesteckt.
Für 400 Euro im Kahn durch die Ägäis
Er setzte für weitere 400 Euro in einem Kahn übers Mittelmeer mit 50 anderen Menschen über auf die griechische Insel Samos in der Ägäis. Es sei kalt gewesen in dem Boot. „Mit der Fähre, mit Zügen, Bussen und zu Fuß kam ich über Mazedonien und andere Länder dann im Oktober 2015 in Deutschland an.“ Eigentlich, sagte Jalal damals, wollte er nach Schweden, aber gemeinsam mit seinem Bruder, der auf anderen Wegen ebenfalls geflüchtet war, entschied er um.
Dortmund, St. Augustin, Bonn – das waren seine ersten Stationen. Ein Flüchtlingslager, eine Notunterkunft nach der anderen. Dann wohnte er in einer Art WG mit anderen Geflüchteten in Habinghorst. Hier ging er auch in die Schule, in eine der Internationalen Klassen am Berufskolleg.
Er sagte uns 2018, er würde gern Schreiner oder Tischler werden. Aber eigentlich, ergänzte er noch, wolle er vor allem für die Freiheit von Ahwaz kämpfen. Noch im Januar, erzählte er im März 2018, habe er einen Anruf bekommen: „Mach den Mund nicht auf. Wir wissen, wo du wohnst. Wenn du nicht aufhörst, kommen wir und töten dich“, habe der unbekannte Anrufer ihm damals gesagt. „Ich weiß nicht, wer es war. Aber es ist mir egal. Meine Menschen sind alle tot auf der Straße – jeden Tag. Die Iraner nehmen uns alles. Was habe ich zu verlieren?“
In der Nacht zum 8. Januar 2023 wurde Jalal J. in Habinghorst festgenommen. Er übernachtete bei seinem Bruder in dessen Wohnung an der Langen Straße. Die beiden werden verdächtigt, einen Anschlag geplant zu haben. Ihnen habe für einen Bomben-Bau wohl nur eine oder zwei Zutaten gefehlt, heißt es aus Ermittlerkreisen. Sie hinterließen wohl eine Spur im Messenger-Dienst Telegram, die vom FBI verfolgt wurde. Aus den USA kam vor Weihnachten ein Hinweis an deutsche Geheimdienste.
Der Zeitpunkt des Zugriffs, am Wochenende und nachts, war kein Zufall. Ermittler gingen sicher davon aus, das Brüderpaar in der Wohnung anzutreffen. Der ältere Bruder hatte keine strafrechtlich relevante Vergangenheit, heißt es. Er wird nach mehreren Wochen in Untersuchungshaft freigelassen. Der Anfangsverdacht gegen ihn bestätigten sich in den Ermittlungen nicht.
Terrorverdächtiger ist der Ast-Werfer von Dortmund: Mordversuch 2019 an der A45
Am 23. November 2023 verurteilt das Landgericht Dortmund den inzwischen 26-Jährigen zu einer neuen Freiheitstrafe. Vier Jahre Haft bekommt er wegen der Planung eines terroristischen Anschlags mit islamistischem Hintergrund. Das Gericht verhängt für ihn außerdem eine anschließende Sicherungsverwahrung.