Demente Menschen dürfen wählen: Doch Theorie und Praxis klaffen auseinander

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Demente Menschen dürfen wählen: Doch Theorie und Praxis klaffen auseinander

rnNeues Wahlrecht

Wer dement ist, durfte nicht wählen. Bei der Bundestagswahl ist das jetzt anders. Doch hat sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wirklich etwas geändert? Eine Berufsbetreuerin zweifelt.

Castrop-Rauxel

, 17.09.2021, 20:55 Uhr / Lesedauer: 3 min

Menschen, die in allen Bereichen des Lebens unter rechtlicher Betreuung leben, sind bislang aus dem Wählerverzeichnis gestrichen worden und durften nicht wählen. Das galt bis 2019. Bei der Bundestagswahl haben sie erstmals wieder eine Wahlbenachrichtigung bekommen. Wir haben mit einer Berufsbetreuerin darüber gesprochen. Sie ist skeptisch.

Ausschlaggebend war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die bis dahin geltende Regelung für verfassungswidrig erklärte. 2019 trat die Änderung des Bundeswahlgesetzes in Kraft. Sie gilt beispielsweise für Menschen mit Demenz oder psychischen Erkrankungen, wenn sie rechtlich betreut werden. Und das „in allen Angelegenheiten“.

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In Castrop-Rauxel stehen rund 3000 erwachsene Menschen unter Betreuung. Die wenigsten von ihnen dürften allerdings bislang von der alten Regelung betroffen sein. Denn es gibt Abstufungen, sagt Maresa Hilleringmann, Pressesprecherin der Stadt. Das betrifft sowohl das Ausmaß der Betreuung als auch den Zeitraum. Manche werden zum Beispiel nur in finanziellen Dingen betreut. Sie durften immer schon wählen.

Richter entscheiden heute differenzierter über Betreuungen

„Die Betreuung ,in allen Angelegenheiten‘ wird immer seltener“, sagt Rebekka Worok, Fachanwältin für Sozial- und Familienrecht in Dülmen. Vor 15, 20 Jahren sei eine solche Betreuung noch schneller angeordnet worden – „das machte es einfacher mit den Behörden“. Rebekka Worok ist die gesetzliche Betreuerin für einige Castrop-Rauxeler Bürger und Bürgerinnen.

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Doch inzwischen werde differenzierter entschieden, sagt sie. Da geht es um bestimmte Bereiche wie Vermögen, Gesundheit oder Ämter und Behörden. Unter all ihren vielen Betreuungen gebe es nur zwei Fälle, in denen sie rundum zuständig ist.

Als typische Fälle nennt sie Menschen, die von Geburt an geistig- oder schwerst-mehrfachbehindert seien. Eltern haben dann meist die gesetzliche Betreuung für ihr Kind. „Wenn ihnen das Wahlrecht für ihr Kind wichtig war, haben sie schon in der Vergangenheit den Richter gebeten, die Aufgaben alle einzeln aufzuführen“, so Rebekka Worok. Und ja, der Satz „Ich will aber für mein Kind wählen“, der falle dann auch schon mal.

Wähler darf bei seiner Entscheidung nicht beeinflusst werden

Genau darum geht es aber nicht. Betroffene dürfen zwar eine Betreuungsperson mit in die Wahlkabine nehmen, die Hilfestellung beim Ausfüllen leistet. Lesen und schreiben muss derjenige nicht unbedingt können, sagt die Fachanwältin. Die Wahlentscheidung aber muss der Wähler selbst treffen. Er darf nicht beeinflusst werden.

Rebekka Worok bekommt jetzt Anrufe aus Altenheimen. Wie man mit den Wahlbenachrichtigungen umgehen solle, wird sie gefragt. In manchen Fällen – und damit sind jetzt nicht nur die gesetzlich betreuten Senioren gemeint – kann die Soziale Betreuung aktiv werden und im Gespräch mit den Betroffenen herausfinden, ob diese eine politische Meinung artikulieren und von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können.

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„Das ist ganz, ganz schwierig“, sagt die Anwältin. Ihr selbst als Berufsbetreuerin sei es beim leisesten Zweifel zu heikel. „Die Gefahr, Fehler zu machen, ist zu groß.“ Dass man von jemandem weiß, dass er „immer schon“ eine bestimmte Partei gewählt habe, reiche zum Beispiel nicht. Sollte sie einem Klienten beim Ausfüllen der Wahlunterlagen helfen, zöge sie sicherheitshalber einen Zeugen hinzu. Obwohl, so fragt sie sich: „Ist dann das Wahlgeheimnis noch gegeben?“

Wahlvorstände sind auf neue Regelung vorbereitet

Ihr Fazit: „Das Wahlrecht ist ein hohes Gut. Die Änderung ist richtig. Aber sie löst nicht das eigentliche Problem.“ Theorie und Praxis liegen halt auseinander.

Konfrontiert mit der neuen Regelung werden auch die Wahlvorstände und -helfer. Die Änderungen werden in den Schulungen der Wahlvorstände aufgenommen, so informiert die Stadt auf Anfrage. Deren Aufgabe ist es, einzuschätzen, ob eine wahlberechtigte Person in der Lage ist, eine eigene Entscheidung zu treffen.

Wie realistisch es allerdings ist, dass tatsächlich Menschen in das Wahllokal kommen, die Hilfe beim Ausfüllen der Wahlunterlagen brauchen und deshalb einen Betreuer mit in die Wahlkabine nehmen wollen, ist fraglich.

Mehr als die Hälfte der Wähler stimmt per Briefwahl ab

Dagegen spricht allein die steigende Zahl der Briefwähler. Stand 16. September sind bei der Stadt Castrop-Rauxel bereits mehr als 22.100 Briefwahlanträge angekommen. Damit wurde der Rekord bei der Kommunalwahl 2020 mit rund 15.000 Briefwählern weit übertroffen. Bei einer ähnlichen Wahlbeteiligung wie vor vier Jahren wären es schon mehr als 55 Prozent der Wähler.

Wer schlecht zu Fuß ist oder anderweitig Hilfe benötigt, wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Briefwahl bevorzugen. Rebekka Worok ist auf jeden Fall am Wahltag 26. September mit keinem der von ihr Betreuten zu einem Wahllokal unterwegs.