Menschen mit Demenz dürfen bei dieser Bundestagswahl erstmals wählen. Ein Helfer oder eine Helferin darf bei der Stimmabgabe helfen. Die Grenzen dessen, was ein Helfer darf und was nicht, sind eng gesetzt. Die große Frage lautet: Wer kontrolliert wie die Einhaltung der Regeln?

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Erstmals dürfen im September auch demente Menschen bei einer Bundestagswahl wählen

rnNeues Wahlrecht

Wer dement ist, durfte bisher nicht wählen. Bei der Bundestagswahl ist das jetzt anders. Erstmals darf jemand dem Dementen beim Wählen helfen. Eine extrem heikle Sache – auch für die Helfer.

NRW

, 31.08.2021, 09:03 Uhr / Lesedauer: 4 min

Es war der 29. Januar 2019, als das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung fällte, die bei der Bundestagswahl am 26. September weitreichende Folgen hat. Bis dahin galt in Deutschland: Wer seine Angelegenheit nicht selbst regeln kann und daher in allen Bereichen* seines Lebens unter rechtlicher Betreuung lebt, darf nicht wählen.

Das betraf demente ebenso wie psychisch kranke Menschen oder solche, deren geistige Fähigkeiten stark eingeschränkt sind. Gleiches galt im übrigen auch für psychisch kranke Straftäter.

Aus dem Wählerverzeichnis automatisch gestrichen

Wenn für solche Menschen ein rechtlicher Betreuer für alle Bereiche bestellt worden war, wurden sie aus dem Wählerverzeichnis ihres Wohnortes gestrichen. Fortan bekamen sie auch keine Benachrichtigung zur Wahl und waren daher vom Urnengang ausgeschlossen.

Diese Regelung erklärte das Bundesverfassungsgericht im Januar 2019 für verfassungswidrig. Daraufhin änderte der Bundestag am 16. Mai 2019 das Bundeswahlgesetz. Künftig kann nur noch ein Richter jemandem das Wahlrecht entziehen, etwa nach einer schweren Straftat. Einen Automatismus wie bis dahin – rechtlicher Betreuer gleich Verlust des Wahlrechts – gibt es nicht mehr.

Die Änderung trat am 1. Juli 2019 in Kraft, fand aber seinerzeit nur wenig Beachtung. Dabei hat sie bei der jetzt anstehenden Wahl beachtliche Konsequenzen. Nach Einschätzung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind in Deutschland derzeit rund 1,6 Millionen Menschen von Demenz betroffen. Tendenz: steigend. Rund 1,3 Millionen Menschen stehen nach Angaben des Bundesverbandes der Berufsbetreuerinnen und -betreuer unter rechtlicher Betreuung. Wie viele davon unter rechtlicher Betreuung in allen Bereichen stehen, ist allerdings unklar. In Fach-Foren ist von einer Größenordnung um die 85.000 die Rede.

Was ein Helfer darf und was nicht

All diese Menschen dürfen jetzt wählen. Außerdem haben sie jetzt das Recht, von einer anderen Person in die Wahlkabine begleitet zu werden. Diese Person, die der Wähler oder die Wählerin selbst bestimmen darf, darf sowohl beim Ausfüllen des Stimmzettels als auch beim Falten und Einwerfen des Wahlbogens in die Urne Unterstützung leisten. So steht es im Gesetz. Allerdings, auch das steht so im Gesetz, kann jeder sein Wahlrecht „nur persönlich“ ausüben.

Was das konkret bedeutet, erläutert Anna-Karina Elbert aus dem Büro des Bundeswahlleiters, der beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden angesiedelt ist, auf Anfrage unserer Redaktion so: „Die Hilfeleistung hat sich auf die Erfüllung der Wünsche des Wählers zu beschränken. Die Hilfsperson ist zur Geheimhaltung der Kenntnisse verpflichtet, die sie bei der Hilfeleistung von der Wahl eines anderen erlangt hat.“

Es gehe also nur um eine rein technische Assistenz wie das Halten eines Stifts oder das Hineinführen in die Kabine: „Eine Ausübung des Wahlrechts durch einen Vertreter anstelle des Wahlberechtigten ist unzulässig. Hier kann es auf die persönliche, gesundheitliche Konstitution der Wahlberechtigten zum Zeitpunkt der Stimmabgabe im Einzelfall ankommen. Die betreffende Person muss eine eigene Wahlentscheidung treffen und äußern können. Der Wahlberechtigte muss zum Ausdruck bringen, dass eine Hilfsperson nötig und von ihm gewünscht wird“, erläutert die Sprecherin des Bundeswahlleiters.

Das Wahlrecht ist nicht auf jemanden anderen übertragbar

Ganz konkret bedeute das, dass die eigentliche Wahlentscheidung vom Wähler im Moment der Wahl selbst getroffen werden müsse. Es sei nicht zulässig, dass der Helfer Mutmaßungen über den Willen seines Schützlings anstelle oder sich an dessen Abstimmungsverhalten in der Vergangenheit orientiere und auf dem Stimmzettel das Kreuz dementsprechend mache, so Anna-Karina Elbert. Das Wahlrecht sei ein höchstpersönliches Recht und in keinem Fall auf jemanden anderen übertragbar.

Deshalb gelte auch: „Es ist nicht die Aufgabe einer Hilfsperson und deshalb unzulässig, durch Befragungen den Willen der wahlberechtigten Person zu ,erforschen‘. Eine solche ,Willenserforschung‘ birgt die Gefahr, mit der Art und Weise von Fragen, sei es bewusst oder unbewusst, auf die Bildung des Willens und den Entscheidungsprozess einzuwirken. Generell gilt es also, alles zu unterlassen, was auf den höchstpersönlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess einwirken könnte“, sagt Anna-Karina Elbert.

Das alles klingt sehr idealtypisch, aber wie realistisch ist das in der Wirklichkeit? Wer überprüft, ob der alte verwirrte Mann oder die alte verwirrte Frau, die da von jemandem in die Wahlkabine begleitet wird, wirklich noch in der Lage ist, eine eigenständige Entscheidung zu treffen?

Eine Sache des Wahlvorstands im Wahllokal

Im Zweifel ist der Wahlvorstand im einzelnen Wahllokal dafür zuständig, erklärt die Sprecherin des Bundeswahlleiters: „Wenn aufgrund der körperlichen Konstitution der dementen Person erkennbar ist, dass eine eigene Wahlentscheidung nicht getroffen und geäußert werden kann, so kann der Wahlvorstand beschließen, den/die Wahlberechtigte zurückzuweisen.“

Falls, so Elbert weiter, erst nach Aushändigung des Stimmzettels bekannt werde, dass der Wähler oder die Wählerin keine eigenständige Wahlentscheidung treffen könne und ein Helfer in unzulässiger Weise „assistiert“ habe, dürfe der Wahlvorstand die Urne nicht freigeben. Die Hilfsperson könne aus dem Wahllokal gewiesen werden.

Die Situation in Alten- und Pflegeheimen

Und was ist in Alten- und Pflegeheimen? Wer kontrolliert, dass dort nicht ein Einrichtungs- oder Stationsleiter für alle wählt? Als Antwort auf diese Frage weist Anna Karina Elbert darauf hin, dass in Heimen in der Regel per Briefwahl gewählt werde. Dabei müssten die Briefwählerinnen und -wähler an Eides statt versichern, dass sie den Stimmzettel persönlich ausgefüllt haben. Die Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung sei strafbar. Allerdings stellt sich die Frage, ob für jemanden, der an Demenz leidet, all diese Regeln wirklich noch einsichtig sind.

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„Wer für jemand anderen den Stimmzettel ausfüllt, macht sich ebenfalls strafbar“, sagt Anna-Karina Elbert. Ausgenommen davon sei nur jemand, der auf Wunsch des Wählenden eine rein technische Hilfe leiste.

Verweis auf drohende lange Haftstrafen

Wie kontrolliert werden kann, dass diese Regelungen wirklich immer und überall eingehalten werden – von Privatleuten, die die Oma oder den Opa in die Wahlkabine begleiten ebenso wie von professionellen Betreuerinnen und Betreuern – lässt die Expertin aus dem Büro des Bundeswahlleiters offen.

Stattdessen verweist Anna-Karina Elbert auf drohende Strafen, wenn man doch bei einem Verstoß gegen diese Vorschriften erwischt wird. So müsse ein Einrichtungs- oder Stationsleiter mit bis zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe rechnen, wenn er den Stimmzettel einer Heimbewohnerin oder eines Heimbewohners ausfülle, ohne deren eigene Wahlentscheidung zu Papier zu bringen. Wenn er also mehr leiste als rein technische Unterstützung und so eine falsche eidesstaatliche Versicherung abgebe.

Was zu tun ist, wenn die Wahlbenachrichtigung nicht kommt

Im Einzelfall könne ein solches Handeln auch als Wahlfälschung gewertet werden. Dafür könne man sogar mit bis zu fünf Jahren Haft oder Geldstrafe belangt werden.

Ein Tipp: Vor der Einführung des neuen Wahlrechts wurden unter Betreuung stehende Menschen aus dem Wählerverzeichnis der Kommunen gestrichen. Eigentlich sollten sie mit dem neuen Wahlrecht, das seit dem 1. Juli 2019 gilt, automatisch wieder in die Wählerverzeichnisse aufgenommen werden. Gut möglich, dass das nicht in allen Fällen geklappt hat.

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Daher gilt: Wer bis 21 Tage vor der Wahl, also bis zum 5. September, keine Wahlbenachrichtigung bekommen hat, sollte sich an die für ihn zuständige Gemeinde wenden.

*In einer älteren Version dieses Textes fehlte der Hinweis „in allen Bereichen“, so dass der Eindruck entstehen konnte, dass von der Neuregelung 1,3 Millionen Menschen betroffen wären. Deren Zahl ist aber wesentlich niedriger. Wir bitten, diese Ungenauigkeit zu entschuldigen.

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