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Vorne hui, hinten pfui: Der BVB und seine Defensivprobleme
Borussia Dortmund
Mit viel Euphorie macht sich der BVB auf den Weg nach Istanbul. Den Start in die Champions League begleiten aber auch Defensivsorgen – die Gründe für die bisherige Gegentorflut sind vielschichtig.
Gegentor Nummer eins sieht Marco Rose noch stehend, nach dem dritten Einschlag im Dortmunder Tor sitzt der Trainer der Borussia konsterniert auf der Bank und bespricht sich mit seinem Assistenten René Maric. Ratlosigkeit prägt seinen Gesichtsausdruck, wie es in diesem Moment innen drin bei ihm aussieht, beschreibt das samstägliche Geburtstagskind später gegenüber den Journalisten so: „Drei Gegentore, das macht mich richtig sauer.“
Der BVB schon mit neun Gegentoren nach vier Spielen
Rose, so scheint es, hat ein Problem geerbt, das schon einige seiner Vorgänger beschäftigte. Den unbändigen Offensivdrang dieser spielerisch hochtalentierten Mannschaft muss der Trainer nur mit leichten Kommandos in die richtigen Bahnen lenken. Dass die Defensive nicht zu Lasten des Spieltriebs geht, ist eine weitaus größere Herausforderung.
Neun Gegentore nach vier Spielen sind für die Ambitionen des BVB nicht akzeptabel. Sie spülen den Klub in der entsprechenden Tabelle in die Abstiegszone. Noch nicht einmal blieb Dortmund in der Liga ohne Gegentor, im Gegenteil. Mindestens derer zwei kassierte der BVB in allen bisherigen Bundesliga-Partien. Das ist deutlich zu viel.
Die drei Gegentore des BVB in ihren Einzelheiten
Rose beschreibt nach den wilden 90 Minuten in der BayArena das Phänomen als „ein Puzzle aus vielen Teilen.“ Nicht der eine individuelle Fehler führe zu den Gegentoren, sagt Rose. Das ließe sich für alle drei Treffer der Werkself konstatieren. Die Rekapitulation:
Gegentor Nummer eins: Mahmoud Dahoud bringt Raphael Guerreiro in Bedrängnis, nach dessen Ballverlust spielt Leverkusen in die Nahtstelle der Dortmunder Innenverteidigung. Der aufgerückte Axel Witsel kann diesen Pass nicht verhindern, Marco Reus geht nur halbherzig zum Ball. Und hinten stehen die Innenverteidiger Marin Pongracic und Manuel Akanji zu weit auseinander. Als Florian Wirtz diese Lücke erkennt und energisch mit Ball in sie hineinsprintet, ist es aus Dortmunder Sicht schon zu spät.
Bayer Leverkusen erwischt den BVB im Vorwärtsgang
Gegentor Nummer zwei: Mit dem Blick zum eigenen Tor und dem Ball am Fuß lässt sich Julian Brandt viel zu viel Zeit, wird von Kerem Demirbay gestört, der sich ihm unbemerkt aus dem „toten Winkel“ nähert. Wieder erwischt Bayer den BVB im Vorwärtsgang, Witsel ist aufgerückt und fehlt beim schnellen Ball auf Wirtz, der erneut mit Tempo auf die Innenverteidiger zuläuft und im richtigen Moment auf Torschütze Patrick Schick weiterleitet. Hilfe von außen kommt für die Dortmunder Innenverteidiger, die in Unterzahl drei Leverkusenern gegenüberstehen, nicht.
Gegentor Nummer drei: Ein Eckball, von Erling Haaland in Richtung 16er abgewehrt, bringt Bayers Diaby in eine gute Schussposition. Jude Bellingham dreht sich weg, um sich vor einem Volltreffer zu schützen. Aus der hinteren Defensivlinie rücken Witsel und Pongracic nicht energisch nach vorne, als Diabys verunglückter Schuss nur einige Meter nach vorne prallt und Ball ihm eine zweite Schusschance bringt. Wieder schlägt der Ball unhaltbar für Gregor Kobel ein.
BVB verteidigt in einigen Szenen zu nachlässig
Nuancen entscheiden in diesen Situationen, nur wenige Meter im Stellungsspiel entscheiden auf dem Rasen zwischen einer erfolgreichen Verteidigung und dem Einschlag im eigenen Tor. Rose spricht von den „Zwischenräumen, in denen wir die Leverkusener besser aufnehmen müssen“. Auch die Kette müsse die Räume besser schließen, sagt er noch.
Auch an Szenen, die nicht zu Gegentoren führen, lässt sich festmachen, dass der BVB als Team aktuell bisweilen zu nachlässig verteidigt. Manuel Akanji musste in Leverkusen mehrfach sehr weit nach außen rücken, um den Raum hinter Raphael Guerreiro zu schließen, dessen Vorwärtsdrang sehr ausgeprägt war. Auf der rechten Seite litt Thomas Meunier auch darunter, dass ihn seine Vorderleute im Duell mit Leverkusens Paulinho oft alleine ließen. „Enger beisammenstehen“, forderte Reus in einer Trinkpause seine Mitspieler überdeutlich auf, der Kapitän sah das weitere Unheil wohl kommen.
Zu große Abstände in der Defensive von Borussia Dortmund
Auch Sebastian Kehl moniert, dass dem gemeinsamen Verteidigen wieder eine höhere Bedeutung zukommen müsse. „Aufeinander achtgeben“ nennt der Lizenzspieler-Leiter das, Kehl fordert eine höhere Wachsamkeit, besseres Vorausdenken – und die Bereitschaft, auch mal einen letztlich unnötigen Weg zurück zu gehen.
Die Anfangsphase der aktuellen Spielzeit beweist, dass sich diese Automatismen immer wieder neu einschleifen müssen. Als der BVB im Frühjahr nach dem vermeintlichen Champions-League-Aus nach der Heimniederlage gegen Eintracht Frankfurt seine Siegesserie startete, funktionierte die „gemeinsame Restverteidigung“, wie Kehl sie nennt. Darauf baute Dortmund eine deutlich variablere Offensive auf. Aktuell prägen zu große Abstände und Lücken das Bild eines Defensivverbundes, der sich neu zusammenraufen muss – nicht nur, weil die Besetzung der Abwehr von wechselnden Köpfen und Personalsorgen geprägt ist und eine vermeintliche Stammelf noch nicht einmal gemeinsam trainieren konnte.
In Leverkusen traf Dortmund auf einen Gegner, dessen Umschaltspiel wie eine Schablone auf die aktuellen Probleme der Borussia passte. Dass Dortmund dennoch den Kopf aus der Schlinge zog, wird kein Regelfall werden. Das bekräftigte auch Reus: „Wir können schließlich nicht immer vier Tore schießen.“
Dirk Krampe, Jahrgang 1965, war als Außenverteidiger ähnlich schnell wie Achraf Hakimi. Leider kamen seine Flanken nicht annähernd so präzise. Heute nicht mehr persönlich am Ball, dafür viel mit dem Crossbike unterwegs. Schreibt seit 1991 für Lensing Media, seit 2008 über Borussia Dortmund.
