Zwölf Ecken schadlos überstanden, selbst nach einem Freistoß getroffen: Borussia Dortmund hat seine signifikante Verbesserung bei ruhenden Bällen erneut zum Sieg verholfen, diesmal beim 1:0 in Hoffenheim. Die im Herbst und Winter eingeleiteten Maßnahmen fruchten, offensiv wie defensiv. Ein Fakt als Beispiel: Der BVB erzielte in den sechs Bundesliga-Partien nach der Winterpause mehr Tore nach Standards (zwei Ecken, drei Freistöße) als in den 15 Spielen davor (je eine Ecke, Freistoß und Strafstoß). Wie das alles möglich ist? Teamwork.
BVB nach 12 Spieltagen Letzter
Rückblick: Im Herbst erntete die Borussia noch Spott. Dortmunder Standard-Deppen, nach dem 12. Spieltag war der BVB das Schlusslicht in der Liga bei ruhenden Bällen. Trotz potenziell guter Schützen (Brandt, Guerreiro, Reus) und guter Kopfballspieler (Süle, Schlotterbeck, Hummels) stand ewig die Null. Allerdings vorne. Erst die 96. Ecke in der Saison brachte den ersten Treffer, als Nico Schlotterbeck im November in Gladbach den Ball über die Linie drückte.
Das Problem: ein Doppelfehler. Schlechte Flanken plus schlechtes Timing. Die Hereingaben ließen zu wünschen übrig, Trainer Edin Terzic bemängelte offen „die Qualität der Bälle, die in den gegnerischen Strafraum fliegen“. Da habe seine Mannschaft „sehr viel verschenkt“. Ebenso beim Vorpreschen in die Gefahrenzone, wo Entschlossenheit und physische Wucht fehlten. Beides sei jedoch unabdingbar. „Nicht nur beim ersten oder zweiten Standard, sondern konstant“, sagte der 40-Jährige.
Bereits im Verlauf der ersten Saisonhälfte räumte der Coach den Übungen und Abläufen vermehrt Zeit ein. Als kurz vor der Winterpause zwei Gegentore nach ruhenden Bällen in Wolfsburg und Gladbach Niederlagen einleiteten und beim BVB für tristen Blues sorgten, intensivierte man die Analyse ein weiteres Mal. Terzic führte sich mit seinem Trainerteam alle Standards, also Ecken, Freistöße und Einwürfe in Strafraumnähe, nochmal zu Gemüte. Wahrlich nicht vergnügungssteuerpflichtig. Aber hilfreich. Fast jeder fünfte Ball sei nicht einmal gefährlich in den Sechzehner gespielt worden, stöhnte Terzic danach. Fortan bekam dieses Thema eine noch höhere Priorität.
Neues Puzzlestück für den BVB
Mit dem Rumpfkader während der Asienreise gehörte Standardtraining zum Standardprogramm, bei der Vorbereitung im Dezember und Januar ging es fast täglich damit weiter. Aus den zarten ersten Anzeichen der Optimierung ist inzwischen eine Gewissheit geworden: Eine hohe Qualität bei den Ausführungen ist beim BVB fast Standard. Ein entscheidendes Puzzlestück, meint Terzic: „Die Wichtigkeit von Standardsituationen ist nicht nur in Dortmund, sondern weltweit bekannt.“ Gerade in engen Spielen, oder um in Führung zu gehen oder davon taktisch profitieren zu können.

Ein weiterer Faktor für den Fortschritt: Seit Januar zählt Armin Reutershahn als Co-Trainer mit zum Stab, der nach mehr als 1000 Bundesliga-Spielen in verantwortlicher Position ein großes Repertoire an „set pieces“ mitgebracht hat. „Er lässt wirklich viele Standardsituationen trainieren, und er lässt sich immer etwas einfallen“, sagte der kopfballstarke Nico Schlotterbeck Anfang Februar. „Und die Schützen muss man auch herausheben. Julian Brandt schießt mittlerweile herausragende Standards.“
Schützen und Zielspieler, Co-Trainer und Analysten: Das Gesamtpaket sei der Schüssel für die Weiterentwicklung, meint Terzic. „Armin ist derjenige, der die Abläufe der Mannschaft vorträgt auf dem Trainingsplatz und die Spieler einteilt.“ Doch oft steckt ein halbes Dutzend aus dem BVB-Stab weit vor den nächsten Übungseinheiten die Köpfe zusammen, seziert Szenen in Offensive und Defensive, bei der eigenen Mannschaft und beim nächsten Gegner. Dann werden die Ideen ausgetauscht. Was kann die eigene Elf einbringen? Wie agiert der Gegner? Wie wirkt man dem entgegen? „Armin macht da einen herausragenden Job. Aber dieses Thema funktioniert vor allem im Zusammenspiel“, sagt der Cheftrainer. Da gehöre auch der andere Co-Trainer Sebastian Geppert dazu, Torwarttrainer Matthias Kleinsteiber ergänze die Perspektive eines Torhüters, die Analysten Daniel Ackermann, Serdar Ayar und Frank Rutemöller liefern vorbereitete Szenen und Vorschläge gleich mit. „Alle sind dabei, Lösungen zu finden“, erklärt Terzic.
Wer schießt, welche Zonen werden attackiert, welche Abstände müssen die Spieler einhalten, wie verhindert man geblockt zu werden – wie Dortmunds Beispiel zeigt, lohnt es sich, hier nichts dem Zufall zu überlassen. Vorne haben die fünf Tore nach ruhenden Bällen seit der Winterpause entscheidend zur laufenden Siegesserie beigetragen, in Mainz und Hoffenheim sogar den Unterschied ausgemacht.
BVB gehört zu den Top-3
Auch in der Defensive, wo das nachlässige Verteidigen gegnerischer Standards über Jahre zum Verdruss von Fans und Verantwortlichen mehr schlecht als recht vonstattenging, hat sich Kontinuität entwickelt. Hier greift die erarbeitete Mischung aus Raum- und Manndeckung. Nico Schlotterbeck oder Mats Hummels agieren als freier Mann in der gefährlichsten Zone direkt vor dem Tor, die Kollegen bekommen Gegenspieler zugeteilt, Torhüter Gregor Kobel erhält möglichst freie Sicht auf die Situation. So werden klare Aufgaben vergeben. „Da sind wir deutlich stabiler geworden“, lobt Terzic. Tatsächlich gehört seine Mannschaft in diesem Teilbereich mit erst vier Gegentoren zu den drei besten Teams der Bundesliga. Eine massive Verbesserung, wie der Datenvergleich zeigt: In den Spielzeiten zuvor gab es immer zweistellige Zahlen (21/22: 12; 20/21: 17; 19/20: 10; 18/19: 17; 17/18: 12) und damit fast jedes dritte Gegentor nach ruhenden Bällen.
Verbesserungspotenzial sehe er weiterhin, ließ Terzic kürzlich wissen. Man werde weiter Standardsituationen „so trainieren, dass die Jungs es dann auch umsetzen können“. In der Defensive gilt die immergrüne Weisheit: Am sichersten lassen sich Standards verteidigen, wenn man sie gar nicht erst verursacht. Und wenn vorne Julian Brandt dem Freistoß von Marco Reus mit dem Rücken die entscheidende Richtungsänderung mitgibt wie am Samstag, lässt sich das zwar nicht trainieren und da spielt sicherlich auch der Zufall mit. Doch dem Freistoß gingen zwei Eckbälle voraus, die Hoffenheim nicht konsequent verteidigen konnte.
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