Wenn ein Trainer nach einem 3:2-Führungstreffer seiner Mannschaft in der zweiten Minute der Nachspielzeit flucht und sich in diesem hoch emotionalen Moment so gar nicht freuen kann, ist in den 91 Minuten zuvor offensichtlich einiges grundlegend falsch gelaufen. Wie der BVB trotz einer mehr als 50-minütigen Überzahl eine 2:0-Führung hergab, das trieb Edin Terzic die Zornesröte ins Gesicht. Altbekannte Muster bahnten sich in Stuttgart wieder ihren Weg an die Oberfläche. Etliche Nachlässigkeiten hatten sich aber schon in den vergangenen Partien mehr oder weniger deutlich eingeschlichen. Da sind die Dortmunder Baustellen:
Verteidigungsverhalten: Vier der ersten sieben Bundesliga-Partien der laufenden Saison hatte der BVB mit dem knappsten möglichen Sieg und ohne Gegentor zu seinen Gunsten entschieden. Im Verlauf der Hinrunde aber ließen Konsequenz und die Bereitschaft, für den Nebenmann mitzuarbeiten, erkennbar nach. Das war auch einer zu hohen Zahl verletzter Spieler geschuldet und besserte sich nach der zweimonatigen Winterpause mit der Rückkehr vieler Leistungsträger deutlich.
Einen bösen Rückfall erlebte der BVB zuletzt vor allem auswärts: In München und Leipzig erreichte Dortmund in zwei der wichtigsten Partien der Rückrunde zu keinem Zeitpunkt das nötige Energielevel. Auf Schalke und jetzt auch in Stuttgart ließ man sich die Kontrolle aus der Hand nehmen und deutlich schwächere Gegner ins Spiel zurückkommen. In vielen Kontersituationen agierte Dortmund in Stuttgart zu schläfrig und taktisch vogelwild – nicht nur beim haarsträubenden und unmotivierten Pressing-Versuch mit einer 3:2-Führung im Rücken in der siebten (!) Minute der Nachspielzeit.
Haltung und Gier: Nach dem 0:2 mit einem Spieler weniger hatte Stuttgarts Trainer Sebastian Hoeneß in der Pause seine Mannschaft darauf vorbereitet, dass der BVB die Intensität nicht beibehalten werde. Wie die Konkurrenz die Mentalität in dieser Dortmunder Mannschaft einschätzt, das lässt tief blicken. Zwei Mal traf die Borussia noch die Latte, da war auch Pech dabei. Weitere Konter und die Möglichkeit zur endgültigen Entscheidung verspielte Dortmund schlampig. Die zu große Selbstzufriedenheit lauert beim BVB hinter jeder Ecke – mit dem Effekt, den gemeinsamen Weg zu verlassen, weil jeder nur noch sein Ding machen will. Das Problem ist erkannt, aber nur sporadisch gebannt. Auch Trainer Terzic droht daran zu verzweifeln.
Widerstandskraft: Auch das ist ein bekanntes Thema in diesem Kader. Mit aller Macht die Führung zu verteidigen, hätte am Ende der Nachspielzeit gerade von den Führungsspielern auf dem Platz eine laute Ansprache, klare Signale und Anweisungen für die Mitspieler gebraucht. Dem Nebenmann durch Wort und Tat zu helfen, ist die Grundlage des gemeinsamen Verteidigens. Als Stuttgart das 1:2 erzielte, gab es niemanden, der sich erkennbar aufbäumte, der die Mitspieler mitriss und sinnbildlich die Ärmel aufkrempelte. Jeder hatte ab der 80. Minute zu viel mit sich selbst zu tun. Das ist ein nicht zu erklärendes Phänomen in einer Mannschaft mit so viel Klasse und Erfahrung.
Körpersprache: „Wir haben eine super Stimmung im Team und richtig Bock, gemeinsam etwas zu erreichen.“ Diesen abgedroschenen Satz hört man von Fußball-Profis oft, vor allem aber immer, wenn es gut läuft. Wie eine Ansammlung aus begabten Einzelspielern, die alle eine Spur Egoismus gebraucht haben, um an die Spitze des Profifußballs zu kommen, aber als Mannschaft funktioniert, zeigt sich vor allem in schwierigeren Zeiten. Als Leader, der dirigiert und selbst als Vorbild vorangeht, drängte in den vergangenen Wochen fast nur Mats Hummels wieder mehr in den Vordergrund. Zu viele andere tauchen ab.
Jude Bellinghams Negativität ist auffällig und lässt sich allein durch seinen großen Ehrgeiz nicht mehr entschuldigen. Marco Reus, dem sich im Herbst seiner Karriere die vielleicht letzte Chance auf den Meistertitel bietet, müsste dies viel deutlicher durch eine Führungsrolle auf dem Platz untermauern. Zu viele versinken in Trance, wenn sie Widerstand erfahren. Als Stuttgart den Anschlusstreffer erzielte, reckte niemand den Hals in die Luft und stellte sich dem zu erwartenden Sturmlauf.
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