Julia Rudde (42) lebt seit fünf Jahren in Ahaus – 2300 Kilometer westlich ihrer Heimatstadt Charkiw. Ihre Eltern, ihre Großmutter und Geschwister leben dort noch. Seit am Donnerstag die russische Armee den Angriff auf die Ukraine gestartet hat, kann sie vor Sorge nicht mehr schlafen.

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Julia Rudde (42): „Nur das russische Volk kann uns gegen Putin helfen“

rnUkraine-Krieg

Vor fünf Jahren kam Julia Rudde wegen der Liebe aus Charkiw nach Ahaus. Heute kann die 42-Jährige aus Sorge um ihre Verwandten nicht mehr schlafen. Und sie macht sich wenig Hoffnung.

Ahaus

, 26.02.2022, 16:04 Uhr

Julia Rudde hat seit Donnerstag nicht mehr geschlafen. Die 42-Jährige macht sich riesige Sorgen um ihre Angehörigen in der ostukrainischen Großstadt Charkiw. In einer umkämpften Stadt, nur eine halbe Stunde Autofahrt von der russischen Grenze entfernt, 2300 Kilometer östlich von Ahaus.

Als sie am Samstag in unsere Redaktion kommt, trägt sie eine ukrainische Bluse. Auch eine kleine ukrainische Flagge hat sie dabei. Am Donnerstagnachmittag hat sie bei der Mahnwache am Mahner eine bewegende Ansprache gehalten. „Ich will den Menschen klar machen, was mit uns in der Ukraine passiert“, sagt sie.

Bilder, Videos, Nachrichten vom Krieg in der Heimat bekommt sie aus erster Hand, wie sie sagt. „Ich kenne die Menschen, die das posten", sagt sie. „Das ist meine Stadt."

Bilder, Videos, Nachrichten vom Krieg in der Heimat bekommt sie aus erster Hand, wie sie sagt. „Ich kenne die Menschen, die das posten", sagt sie. „Das ist meine Stadt." © Stephan Rape

„Wir gehören nicht zum russischen Volk. Wir sind Ukrainer, wir sprechen ukrainisch, denken europäisch und haben in Frieden gelebt“, erklärt sie halb wütend, halb verzweifelt. 2017 kam sie nach Ahaus. Wegen der Liebe, wie sie sagt. Sie heiratete Matthias Rudde, nahm seinen Namen an. Sie arbeitet als Hebamme im Bocholter Krankenhaus, macht Nachsorge bei Frauen in der Umgebung.

Krieg hat sich lange abgezeichnet

Dass sie einmal über einen Krieg in ihrer Heimat sprechen würde, hätte sie sich nie träumen lassen. Auch wenn sich die Kämpfe schon seit 2014 abgezeichnet hätten. Seit der Proteste auf dem Maidan in Kiew, seit die Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgerufen wurden, seit die Krim annektiert wurde. „Wir haben uns gewehrt“, sagt sie.

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Doch das alles habe gegen Waldimir Putin nichts gebracht. „Der hat sich das klug ausgerechnet“, sagt sie. Mit beiden Händen halte er den Gashahn in der Hand. „Ich glaube nicht, dass ihn jemand stoppen kann.“

Bilder aus erster Hand sprechen vom Krieg

Täglich telefoniert sie mit ihrer Mutter. Der gehe es den Umständen entsprechend. Die Geschäfte seien geöffnet. Auch Lebensmittel würde es noch geben. Nur das Brot würde manchmal knapp. Morgens sei es ruhig in Charkiw. Gegen 11 Uhr würde dann der Beschuss beginnen. Mal näher, mal ferner.

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Bilder bekommt sie von Bekannten zugeschickt. „Ich kenne diese Häuser, kenne die Menschen, die diese Bilder verschicken“, sagt sie. „Das ist meine Stadt.“ Raketen seien in der Nachbarschaft und nahe des Flughafens eingeschlagen. Eine Blutbank und ein Kinderklinikum seien beschossen worden. Sie zeigt Bilder eines Raketeneinschlags in ein Wohnhaus. Die habe sie über einen Telegram-Kanal erhalten, in dem viele Informationen aus Charkiw gesammelt werden.

Inzwischen würde die ukrainische Armee die Menschen auffordern, keine Bilder oder Videos von Soldaten und Kriegsgerät mehr zu machen. „Die Russen sollen keine Informationen über unsere Armee bekommen“, sagt sie.

Sie spricht weiter vom „Wir“ und von „uns“ wenn sie über die Menschen in Charkiw redet. „Meine neue Heimat ist Ahaus und Deutschland“, sagt sie. Heimat sei da, wo man wohne. „Aber meine Wurzeln sind und bleiben ukrainisch“, fügt sie hinzu.

Russen sollen einfach aus der Ukraine wieder verschwinden

Was sie sich wünscht? „Dass die Russen aus unserem Land verschwinden. Wir haben unsere Regierung gewählt. Wenn wir mit ihr nicht einverstanden wären, hätten wir genug Kraft, um uns selbst dagegen zu wehren. Wir brauchen keine Hilfe von Russland.“

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Durch Zufall ist ihr Bruder gerade bei ihr in Ahaus. „Der sollte uns bei der Renovierung helfen“, sagt sie. Drei Wochen war er in Ahaus, wollte eigentlich in diesen Tagen zurück nach Hause fliegen. Jetzt ist der Luftraum gesperrt. „Er wollte fahren, das habe ich ihm verboten“, sagt sie.

Menschen fotografieren noch schwelende zerstörte russische Militärfahrzeuge am Stadtrand. Russische Truppen haben den erwarteten Angriff auf die Ukraine gestartet.

Menschen fotografieren noch schwelende zerstörte russische Militärfahrzeuge am Stadtrand. Russische Truppen haben den erwarteten Angriff auf die Ukraine gestartet. © picture alliance/dpa/AP

Stattdessen versuche nun ihre Schwägerin aus der Ukraine zu ihrem Mann zu kommen. Auf eigene Faust. Erst per Bus oder Anhalter bis zur polnischen Grenze, dann weiter nach Krakau, von dort per Flieger nach Dortmund. „Dann können wir sie abholen“, sagt Julia Rudde. Am Samstagmorgen sei sie losgefahren.

Eltern, Großmutter und Schwester harren in Charkiw aus

Für ihre Eltern und ihre Großmutter sei das keine Option. „Meine Großmutter ist zu alt. Meine Eltern wollen sie, das Haus auf dem Dorf und die Wohnung in der Stadt nicht im Stich lassen“, erklärt sie. Mutter und Großmutter würden sich im Moment in der Wohnung im dritten Stock aufhalten. „Meine Oma ist 92, kann nicht mehr laufen. Sie schafft es nicht in den Keller“, sagt sie. Ihr Vater passt auf das Haus der Großmutter in einem Dorf vor der Stadt auf. Wie es ihm gerade geht, weiß sie nicht.

Ihre Schwester hat mit ihrem dreijährigen Neffen Schutz in einer U-Bahnstation gesucht. „Die hat sie seit Donnerstagmorgen wenn nur ganz kurz verlassen“, sagt sie. Es sei schrecklich.

Sie kann auch verstehen, dass die westlichen Länder, dass Deutschland nicht stärker in den Konflikt eingreift. Ihre Hoffnung ist, dass sich das russische Volk erhebt und gegen den Krieg protestiert. Auch wenn ihr klar ist, dass das fast unmöglich wird. „Selbst die Russen in Deutschland glauben doch, was über die russischen Staatsmedien verbreitet wird“, sagt sie kopfschüttelnd. Wie es weiter geht? Sie weiß es nicht.

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