Es gibt Gegenden, in die will man nicht gehen - auch nicht, wenn eine Brücke hinführt. Solche No-Go-Areas gab es lange auch für manch einen Werner. Und ein bisschen davon ist bis heute geblieben.

Werne

, 17.11.2019, 05:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Mit dem Auto kommt man heute recht bequem von Werne nach Bergkamen oder Dortmund. Bei Pendlern sind diese Strecken sogar recht beliebt: 1272 Menschen pendelten laut Angaben des statistischen Landesamtes im Jahr 2018 täglich aus Bergkamen nach Werne.

Auf der Seite der Einpendler bedeutet das für die Bergkamener Platz 2 hinter Hamm. Auf der Seite der Auspendler hat hingegen Dortmund die Nase vorn: 1437 Werner zog es täglich für die Arbeit in die Stadt, die einst für Bier, Kohle und Stahl stand – heute allerdings eher für Fußball und als Logistikstandort bekannt ist.

Das Verhältnis zwischen den Nachbargemeinden scheint also zu stimmen. Wahrscheinlich sogar auf zwischenmenschlicher Ebene. Zumindest aber, wenn es um den Brotverdienst geht. Die Anbindung ist ja auch hervorragend: Der Weg über die Lippe? Ein Katzensprung. Von Grenzen keine Spur. Oder etwa doch?

„Rünthe?! Das war früher ein bisschen so wie die Bronx. Zumindest hatte es diesen Ruf.“
Schauspieler Ludger Burmann

„Rünthe?! Das war früher ein bisschen so wie die Bronx. Zumindest hatte es diesen Ruf. Es hieß immer, da kommen die Klopper her. In Werne war man immer etwas feiner“, sagt Ludger Burmann (58) und lacht. Der Schauspieler ist gebürtiger Werne, in seinem Berufsleben allerdings schon weit herumgekommen.

In den 1980er-Jahren war er sogar mal eine Zeit lang als Taxifahrer unterwegs. Und um die Strecke in den Bergkamener Ortsteil habe man sich in den Reihen der Fahrer nicht gerade gerissen, sagt Burmann. Der Vorteil: Auch bei den Fahrgästen war die Nachbargemeinde kein sonderlich begehrtes Reiseziel.

Noch heute heißt es: Nach Bergkamen fahren wir nicht!

In gewisser Weise scheint Bergkamen auch heute noch kein begerhtes Reiseziel für Werner zu sein. Denn auch wenn dieser Satz stets mit einem Augenzwinkern geäußert wird, hört Constanze Döhrer ihn gelegentlich noch, wenn sie sich mit den Besuchern des Stadtmuseums unterhält: Nach Bergkamen fahren wir nicht! „Es heißt dann immer, das sei zu weit weg. Aber räumlich ist es das natürlich nicht. Es ist wohl eher eine Gefühls- oder auch Kopfsache. Da gibt es bei manchen Leuten eben immer noch diese Grenzen“, sagt die Museumsleiterin.

Von wegen „Brücken bauen“

Die Grenzen zwischen den Wernern und den Leuten südlich der Lippe meint Döhrer. Und diese Grenzen sind sogar historisch bedingt. Nicht umsonst spielt „die Brücke“ eine wichtige Rolle im neuen Konzept des Stadtmuseums. Dabei geht es nicht bloß um die metaphorische Brücke, also etwa die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder die zwischen zwei Kulturen. Es geht zunächst mal um die echte Brücke. Die, die heute an der Kamener Straße ist und die es an dieser Stelle inzwischen seit gut 150 Jahren gibt.

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Und vorher? Da existierte im 13. Jahrhundert mal an anderer Stelle die Christophorus-Brücke. Aber von der ist längst nichts mehr zu sehen. Wichtig ist: Als die neue Brücke im 19. Jahrhundert errichtet wurde, da prallten hier zwei unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. „So etwas kann spannend und bereichernd sein und eine Region voranbringen“, sagt Döhrer. Aber so etwas berge natürlich auch Zündstoff. Zumal das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen der Lippestadt und denen südlich davon, lange Zeit durchaus belastet war.

Historische Problem-Wurzeln

Dreht man das Rad der Zeit ein wenig zurück, dann ist das auch mehr als nachvollziehbar. Denn Werne diente schon im 14. Jahrhundert als Bollwerk. Der Fürstbischof von Münster setzte bei der Verteidigung der Südflanke des Bistums auf das kleine Grenzstädtchen im langwierigen Kampf gegen die ungeliebten Nachbarn: die streitsüchtigen Grafen von der Mark. Und das waren eben auch die von jenseits der Lippe. Also, mal schnell zum Brötchenverdienen rüberpendeln? Keine Chance.

Und in manchen Fällen, da wirkt die Vergangenheit noch ziemlich lange nach. Das kennt man mitunter von Kleinkriegen am Gartenzaun. Man stelle sich vor, da käme plötzlich jemand und würde eine Brücke bauen. Unverschämtheit! Und doch kam diese Brücke für Werne. Die Brücke zum Ruhrgebiet, zu einer ganz anders gestrickten Region, die neue Handelsrouten und wirtschaftliche Entwicklungschancen offenbarte. Doch da gab es eben auch noch eine gehörige Portion Skepsis. „Bei einem so einschneidenden Erlebnis muss es ja irgendwie geknallt haben“, sagt Döhrer.

„Man ging nach Münster einkaufen, aber nicht nach Unna oder Dortmund. Und schon gar nicht heiratete man über die Grenze hinweg.“
Stadtführerin Heidelore Fertig-Möller

Trotz des neuen befestigten Übergangs behielt die Lippe ihren Grenzcharakter. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man die Entwicklung der Region betrachtet. Auf der einen Seite der Bergbau, die Ruhrpott- und Malocher-Mentalität, die etwa aus Dortmund über Lünen und Bergkamen ans andere Flussufer schwappte. Auf der anderen Seite das Münsterland, tendenziell landwirtschaftlich geprägt und mit einem gefühlt ganz anderen Menschenschlag. Und irgendwo mittendrin: Werne.

„Ich hatte immer den Eindruck: Wenn du in Münster in die Kneipe gegangen bist und keinen kanntest, dann hast du auch keinen kennengelernt. Im Ruhrpott war das genaue Gegenteil der Fall. Da war man offener“, sagt Ludger Burmann. Im Ruhrgebiet, da komme man „an der Haltestelle vielleicht etwas eher ins Gespräch als im Münsterland“, sagt auch Döhrer.

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Eigentlich sei Döhrer mit solchen Verallgemeinerungen stets vorsichtig: „Ich habe aber durchaus den Eindruck, dass Leute in ländlichen Gebieten oft als schweigsamer und stur beschrieben werden – das gilt aber nicht nur fürs Münsterland sondern auch für den bayerischen Wald.“

Unglückliche (Ehe-)Szenen

Doch warum sollte es dann „gekracht“ haben? „Das war sicher eine wirtschaftliche Sache. Den Handwerkern in Werne ging es immer schlechter. Und dann kam auch noch plötzlich aus dem Ruhrgebiet die Zechenkultur. Da spielte Stolz eine große Rolle“, erklärt Döhrer.

Wirtschaftliche Differenzen, kulturelle Differenzen, „menschliche“ Differenzen - zumindest im Umgang miteinander. Es ist noch gar nicht so lange her, dass sich die Menschen von nördlich und südlich der Lippe strikt aus dem Wege gingen, weiß Stadtführerin Heidelore Fertig-Möller.

Als Werner sei man immer nach Münster einkaufen gefahren, aber nicht nach Dortmund oder Unna: „Und man heiratete natürlich auch nicht über diese Grenze hinweg.“ Da habe es einige unglückliche Szenen gegeben - was jedoch wohl auch auf die unterschiedlichen Konfessionen zurückzuführen war.

Eine Frage der Mentalität

Man hielt nun mal nicht viel voneinander. Die Mentalitätsfrage, die spielt offenbar nicht nur eine wichtige Rolle, wenn gut bezahlte Profi-Fußballer mit fragwürdiger Einstellung scheinbar unmotiviert über den Platz rumpeln. Und die Frage, ob die da drüben wirklich alle so anders ticken als man selbst, stellte man sich oftmals gar nicht erst. Empirische Belege? Braucht’s nicht.

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Gibt ja schließlich Vorurteile und Stereotype. Solche, über die man vielleicht schmunzeln mag und andere, die womöglich gefährlich werden können. Grundsätzlich aber können sie jeden treffen - jede Gruppe von Menschen, wie etwa Alexander Thomas, ehemaliger Professor für Sozialpsychologie an der Uni Regensburg, erklärt: „Bevorzugte Zielgruppen sind Ausländer, Behinderte, Straffällige, Bewohner eines benachbarten Dorfes, Stadtviertels oder Straßenzuges“. Gemeinsam sei deren „Mitgliedern“, dass ihnen negative Eigenschaften zugeschrieben werden.

Vorteilhafte Vorurteile

Vorurteile könnten wie aus dem Nichts entstehen. Es brauche noch nicht einmal einen vorausgehenden Konflikt - etwa den mit den Grafen von der Mark. Und hat sich ein solches Bild erst einmal herumgesprochen, dann wird man es so schnell nicht wieder los. Denn Vorurteile sind standhaft - auch weil sie vieles einfacher machen.

„Sie ermöglichen eine schnelle und präzise Orientierung in einer komplexen sozialen Umwelt. Personen und Objekte lassen sich leicht kategorisieren und bewerten und man weiß schnell, woran man ist“, so Thomas.

Wer auf Vorurteile zurückgreift, der kann sich schneller anpassen, sich selbst in ein gutes Licht rücken und sich besser in eine Gemeinschaft integrieren. Insofern dürfte man als Werner Neubürger über einen relativ langen Zeitraum recht gute Karten gehabt haben, wenn man beim Blick auf die Lippe möglichst schnell herausposaunte: Die da drüben, das sind doch die Klopper!

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