Tochter im Haushalt des Vaters in Gefahr: Obwohl es mehrmals Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung gab, hat das Jugendamt in Werne erst spät reagiert. Die Mutter stellte daraufhin Dienstaufsichtsbeschwerden gegenüber Mitarbeitern des Jugendamtes.

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Kampf um die Tochter und mit dem Jugendamt: Beschwerden gegen Mitarbeiter werden abgewiesen

rnKindeswohlgefährdung in Werne

Die Mutter hat Angst um ihre Tochter, die beim Vater lebt. Trotz Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung reagiert das Jugendamt in Werne erst spät. Obwohl es zuvor Beschwerden gegen Mitarbeiter gab.

Werne

, 13.10.2021, 14:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Jahrelang kämpft eine Mutter um die eigene Tochter, die im Haushalt des Kindesvaters lebt. Trotz zahlreicher Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung von Mutter, Lehrern, Ärzten und Nachbarn reagiert das zuständige Jugendamt in Werne erst spät. Die Mutter erhebt schwere Vorwürfe gegenüber dem Jugendamt.

Sie stellt Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Mitarbeiter. Diese Beschwerden weist die Stadtverwaltung ab. Dabei hatte man kurz zuvor selbst das Kindeswohl als gefährdet angesehen. Monate vorher sind bereits mehrfach Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung bei der Behörde eingegangen. Die Chronologie der wichtigsten Ereignisse:

Sommer 2017: Die Tochter Julia lebt nach der Trennung der Eltern zehn Jahre lang bei der Mutter Lisa (beide Namen von der Redaktion geändert). Wir berichten anonym über den Fall, um die Familie zu schützen. Der Vater hat ein Umgangsrecht. Der Vater verweigerte nach den Sommerferien plötzlich die Herausgabe der Tochter an die Mutter. Es folgen zahlreiche Gerichtsverhandlungen um die Herausgabe des Kindes und um das Sorgerecht des Kindes.

Oktober 2017: Ausschließlich der Kindesvater meldete beim zuständigen Jugendamt das Kindeswohl als gefährdend im Haushalt der Mutter. Das derzeit zuständige Jugendamt bestätigt, dass es gegenüber der Kindesmutter Meldungen wegen einer Kindeswohlgefährdung gab. Diese Meldungen, die der Kindesvater abgesetzt hat, werden abgewiesen. „Es gab keinerlei Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung“, erklärte Christoph Hüsing, Pressesprecher des Kreises Coesfeld. Nachdem die Tochter länger bei ihrem Vater lebt, lehnt sie plötzlich jeglichen Kontakt zur Mutter ab. Mutter Lisa befürchtet, dass das Mädchen zunehmend in einen Loyalitätskonflikt zwischen Mutter und Vater geraten ist.

November 2019: Ein Familienmitglied gibt eine Gefährdungsmeldung beim nun zuständigen Jugendamt in Werne ab, da das Kindeswohl im Haushalt des Kindesvaters gefährdet ist. Der Kindesvater leide unter einer psychischen Instabilität, heißt es darin.

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Dezember 2019: Der zuständige Mitarbeiter des Jugendamtes informiert die Kindesmutter über die Gefährdungsmeldung, weil es den Verdacht gebe, dass der Vater eine psychische Erkrankung habe. Die Mutter bestätigte nach eigenen Aussagen den Verdacht, dass der Vater unter einer psychischen Erkrankung leidet.

Dezember 2019: Eine Ärztin setzt eine Meldung über eine Kindeswohlgefährdung ab, weil sie laut Kindesmutter das Kindeswohl wegen der psychischen Instabilität des Kindesvaters gefährdet sieht.

April 2020: Der Kindesvater bekommt das alleinige Sorgerecht für die Tochter, obwohl es zuvor mehrere Meldungen über eine Kindeswohlgefährdung gab. Die Entscheidung fällt das Oberlandesgericht Hamm auf Grundlage eines Gutachtens. Die Kindesmutter und weitere Experten bemängeln dieses Gutachten, da es nicht nach den vorgegebenen wissenschaftlichen Kriterien erstellt wurde. Die psychologische Testdiagnostik ergab ebenfalls Hinweise auf eine psychische Instabilität des Kindesvaters, wie aus dem Gutachten, das der Redaktion vorliegt, hervorgeht.

Juli 2020: Das Jugendamt Werne stellt ein einstweiliges Anordnungsverfahren beim Amtsgericht Lünen wegen des Verdachts einer Kindeswohlgefährdung. Man könne selbst nicht beurteilen, ob das seelische und physische Wohl des Kindes gefährdet ist, heißt es in dem Schreiben, das der Redaktion vorliegt. Eine akute Gefährdung sei nicht festzustellen.

Obwohl mehrere Personen das Wohl eines Mädchens im Haushalt des Vaters stark gefährdet sahen, reagierte das Jugendamt in Werne spät. Bis die Situation eskaliert. Die Mutter erhebt schwere Vorwürfe gegen das Jugendamt.

Obwohl mehrere Personen das Wohl eines Mädchens im Haushalt des Vaters stark gefährdet sahen, reagierte das Jugendamt in Werne spät. Bis die Situation eskaliert. Die Mutter erhebt schwere Vorwürfe gegen das Jugendamt. © Andrea Wellerdiek

August 2020: Das Amtsgericht Lünen kommt zu dem Ergebnis, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Der Vater soll daraufhin eine Unterstützung bei der Erziehung und im Umgang mit seiner Tochter bekommen, die er kategorisch ablehnt. Die Tochter soll, weil sie sich so geäußert hat, bei dem Vater bleiben. Es kommt nicht zur Inobhutnahme, sondern zur Hilfe zur Erziehung als mildestes Mittel. „Durch die Intervention des Jugendamtes, das sicherstellt, dass das Kind in der Lage ist, seine eigenen Anschauungen zu bilden, kann eine Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen werden“, heißt es in der Begründung, die der Redaktion vorliegt. Das Kind aus dem Haushalt des Vaters zu nehmen, käme aufgrund des Wunsches der Tochter nicht infrage. Ein Umzug zu der Mutter käme ebenfalls nicht infrage, weil das Kind dies ablehnt, heißt es darin weiter.

August 2020: Die Kindesmutter stellt eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen einen Mitarbeiter des Jugendamtes Werne. Sie kritisiert, dass die Kindeswohlgefährdungsmeldungen nicht an die Gerichte weitergeleitet worden sind. Zudem wirft sie dem Mitarbeiter in diesem Zusammenhang Untätigkeit vor, um die Gefährdung ihrer Tochter abzuwenden.

September 2020: Die Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Mitarbeiter des Jugendamtes weist Bürgermeister Lothar Christ zurück. Der Mitarbeiter hätte zu keinem Zeitpunkt dienst- oder pflichtwidrig gehandelt. Alle Mitteilungen und die Mitteilung der Ärztin wurden bei der abschließenden Bewertung einer Kindeswohlgefährdung berücksichtigt. „Zum damaligen Zeitpunkt ergaben sich keine konkreten Hinweise einer akuten Kindeswohlgefährdung. Für die Weitergabe der Mitteilung gab es demnach keine rechtliche Grundlage. Insgesamt wurden keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Sachbearbeitung festgestellt“, heißt es in der Begründung, die der Redaktion vorliegt.

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Oktober 2020: Kindesmutter und ein weiteres Familienmitglied geben eine Gefährdungsmeldung an das Jugendamt ab. Sie sorgen sich um das Wohl des Mädchens, das im Haushalt des Kindesvaters lebt.

Dezember 2020: Ein Mitarbeiter des Jugendamtes teilt dem Amtsgericht in Lünen mit, dass der Vater nicht auf die ihm auferlegte Erziehungshilfe reagiert. „Trotz der festgestellten Kindesgefährdung und Notwendigkeit nimmt Vater die Hilfe nicht wahr“, heißt es in dem Schreiben, das der Redaktion vorliegt. Zu diesem Zeitpunkt fehlt die Tochter seit mindestens zwei Wochen im Schulunterricht.

Januar 2021: Das Amtsgericht Lünen beschließt die Inobhutnahme des Kindes. Mitarbeiter von Jugendamt und Polizei öffnen die Wohnung. Das Kind, das sich laut Bericht, der der Redaktion vorliegt, in einem schlechten Zustand befindet, wird in Obhut genommen und in eine Wohngruppe gebracht.

Januar 2021: Ein Mitarbeiter des Jugendamtes teilt dem Amtsgericht Lünen mit, dass man eine erhebliche Kindeswohlgefährdung festgestellt habe bei der Inobhutnahme des Kindes. Das Mädchen habe völlig isoliert gelebt. Eine Einholung eines Sachverständigen sei zu empfehlen, heißt es weiter in dem Bericht, der der Redaktion vorliegt.

Februar 2021: Ein Mitarbeiter des Jugendamtes stellt Antrag auf eine Grundausstattung für das Kind, das seit Anfang Januar in einer Wohngruppe untergebracht ist. Das Mädchen habe nicht genügend Kleidung. Die Kindesmutter bot dem Jugendamt zuvor Hilfe an und wollte selbst Kleidung oder zumindest Gutscheine dafür besorgen. Das Jugendamt lehnte dies ab mit dem Hinweis, dass dies dafür sorgen würde, dass die Mutter Kontakt zu der Tochter aufnehmen und sie damit unter Druck setzen würde. Das geht aus einem Schreiben hervor, das der Redaktion vorliegt.

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April 2021: Ein Gutachter empfiehlt ein begleitetes Umgangsrecht mit dem Kindesvater, alle 14 Tage für zwei Stunden.

April 2021: Die Anwältin der Kindesmutter stellt einen Antrag auf eine neue Anhörung vor dem Amtsgericht Lünen nach der Inobhutnahme des Kindes. Darin fordert sie u.a., die Ergänzungspflegekraft zu ersetzen. Außerdem beruft sie sich auf §1686, Auskunft jeden Elternteils, wenn es um das Wohl des Kindes geht und fordert mehr Informationen für die Kindesmutter.

Juli 2021: Die Kindesmutter stellt eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen einen weiteren Mitarbeiter des Jugendamtes. Sie wirft ihm vor, sie getäuscht zu haben. Er geht davon aus, dass die Tochter sich unter Druck gesetzt fühlen würde, weil es unzweifelhaft zur Kontaktaufnahme durch die Kindesmutter kommen würde. Deshalb gibt er keine Informationen an die Mutter weiter. Die Mutter stellt diese Aussagen stark infrage und sie fühlt sich in der Befürchtung bestätigt, dass sie als Mutter keine Informationen erhalten soll, um eigenes Fehlverhalten der Behörde zu verschleiern.

Juli 2021: Das Jugendamt Werne leitet ein einstweiliges Anordnungsverfahren ein mit der Begründung, dass das Kindeswohl gefährdet ist und der Kindesvater nicht gewillt und/oder in der Lage ist, an der Abwendung der drohenden Gefährdung mitzuwirken. Er weigerte sich zunächst, Behandlungskosten für das Kind zu übernehmen. Später kündigte er laut der Mutter an, für die Kosten aufzukommen.

August 2021: Die Stadt Werne weist die Dienstaufsichtsbeschwerde gegen einen weiteren Mitarbeiter ab. Begründung: Eine Täuschungshandlung sei nicht erkennbar. Das geht aus einem Schreiben hervor, das der Redaktion vorliegt.

September 2021: Das Hauptsacheverfahren zum Sorgerecht und der weiteren Unterbringung des Kindes wird am Amtsgericht Lünen eröffnet. Damit soll endgültig entschieden werden, wie es für die nun 14-jährige Jugendliche weitergeht und wo sie leben wird. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Das Kindeswohl ist im Haushalt des Kindesvaters akut gefährdet, wie aus dem Gutachten hervorgeht.