Im vergangenen Jahr wurden so viele Kindeswohlgefährdungen bei deutschen Jugendämtern gemeldet wie nie zuvor. Das hat nicht nur mit der Corona-Krise zu tun, wie eine Expertin sagt.

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Lügde als Warnung? So viele Kindeswohlgefährdungen wie nie zuvor gemeldet

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Eine Mutter kämpft um das Wohl ihres Kindes, das beim Vater in Werne lebt: Immer häufiger gehen Kinderschutz-Meldungen ein bei Jugendämtern, die laut Experten im Umgang mit diesen Hinweisen besser geschult werden müssen.

Werne

, 11.10.2021, 16:30 Uhr / Lesedauer: 3 min

Schwere Vorwürfe erhebt eine Mutter gegenüber dem Jugendamt in Werne. Obwohl es mehrfache, unabhängige und von medizinischem Fachpersonal getätigte Hinweise auf eine Gefährdung des Wohles eines Mädchens gab, hat das Jugendamt lange nicht reagiert. Dass die heute 14-Jährige im Haushalt des Vaters gefährdet ist, zeigte spätestens die Inobhutnahme im Januar 2021. Seitdem lebt die Jugendliche in einer Wohngruppe.

Die Mutter, die anonym bleiben möchte, kritisiert, dass die Mitarbeiter des Jugendamtes nicht früher reagiert haben. „Das finde ich schon sehr besorgniserregend, wenn ein Jugendamt solche Hinweise ignoriert. Das erinnert mich an die Fälle Lügde und Münster. Das Jugendamt hatte ganz viele Hinweise“, sagt sie.

Und die Zahl der Kindeswohlgefährdungen steigt. 2020 waren es 5000 mehr als im Vorjahr: 60.551 Meldungen wurden in den Jugendämtern deutschlandweit gezählt, wie das Statistische Bundesamt jüngst mitteilte. Damit wurde der Höchststand seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 erreicht. Eine noch höhere Dunkelziffer ist zu befürchten. Im vergangenen Jahr wurden rund 45.400 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz in Obhut genommen.

Kinderschutz-Meldungen steigen seit Jahren an

Dass es so viele Hinweise auf Gefährdungen gab, hat allerdings nicht nur mit den Missbrauchskomplexen wie Lügde, Münster oder Bergisch Gladbach zu tun, wie Dr. Margareta Müller (59) erklärt. Sie ist seit mehreren Jahren Fachberaterin für den Bereich Gewalt an Kindern, Vernachlässigung von Kindern und sexueller Missbrauch im Deutschen Kinderschutzbund, Landesverband NRW.

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„Die Zahlen steigen jedes Jahr an. Die Mitteilungen an die Jugendämter sind gestiegen. Und zwar unabhängig von Missbrauchskomplexen wie in Lügde, Münster oder Bergisch Gladbach oder der Corona-Krise. Es gibt unterschiedliche Argumentationsstränge“, sagt die 59-Jährige, die sich auf die sogenannte 8a-Statistik (eine 8a-Meldung ist eine Meldung über eine Kindeswohlgefährdung) bezieht.

Demnach sei nach der ersten Erhebung 2012 in den ersten Jahren eine Untererfassung zu berücksichtigen. Darüber hinaus seien mehr Fachkräfte für das Thema sensibilisiert und geschult worden. „Viele Kinder gehen im Alter von einem Jahr in die Kita. Das gab es früher weniger. Weil mehr Kinder in Tagesbetreuungen sind, gibt es auch mehr Fachkräfte, die einen Blick auf die Kinder haben“, erklärt Müller.

Missbrauchskomplexe sorgen für mehr Sensibilität

Während des Lockdowns, in dem Kitas, Schulen und Vereine geschlossen blieben, hätten aber verstärkt auch andere Kontaktpersonen von Kindern und Jugendlichen Gefährdungsmeldungen an die Jugendämter gerichtet. Schwerwiegende und in der Öffentlichkeit lange diskutierte Missbrauchsfälle wie die in Lügde hätten für mehr Sensibilität in der Bevölkerung gesorgt. So meldeten beispielweise Nachbarn Verdachtsmomente, als die Kita geschlossen blieb.

Das Aufdecken von Missbrauchsfällen führte aber auch dazu, dass die Politik reagierte. „Diese massiven Ereignisse haben vieles wach gerüttelt. Es wird mehr investiert und mehr geschult“, erklärt Müller. Neben der Einrichtung von Beratungsorten wie die Landesfachstelle „Prävention sexualisierte Gewalt“ gibt es zusätzliche Förderungen für Präventionsangebote.

Missbrauchskomplexe wie die in Lügde haben nicht allein dafür gesorgt, dass es mehr Meldungen über Kindeswohlgefährdungen gibt, sagt Dr. Margareta Müller. Sie ist Fachberaterin für den Bereich Gewalt an Kindern, Vernachlässigung von Kindern und sexueller Missbrauch im Landesverband NRW des Deutschen Kinderschutzbundes.

Missbrauchskomplexe wie die in Lügde haben nicht allein dafür gesorgt, dass es mehr Meldungen über Kindeswohlgefährdungen gibt, sagt Dr. Margareta Müller. Sie ist Fachberaterin für den Bereich Gewalt an Kindern, Vernachlässigung von Kindern und sexueller Missbrauch im Landesverband NRW des Deutschen Kinderschutzbundes. © Kinderschutzbund

Darüber hinaus werden mehr Gelder bereitgestellt, um Schulungen für das Personal in den Jugendämtern anzubieten. Und die seien notwendig, wie Müller sagt. Sie verweist dabei auf ein im Juli 2021 veröffentlichtes Gutachten der Kinderschutzkommission des Landtages NRW, das die Organisationsstruktur in Jugendämtern anhand von elf Behörden analysiert hat. „Es zeigt, dass ein Teil der Stellen nicht besetzt ist oder dass keine Fachkräfte zu finden sind“, erklärt Müller.

Die Qualität der Arbeit der Jugendämter würde sich auch in der personellen Besetzung widerspiegeln. „Gerade bei kleineren Jugendämtern macht sich bemerkbar, wenn einzelne Stellen nicht besetzt sind.“ Im Gutachten kommt man aber auch zu dem Ergebnis, dass es einer Fortbildungsoffensive bedarf.

„Weil die Fachkräfte, die zum Beispiel Soziale Arbeit studieren, sich nicht im Studium spezialisieren können, muss das im Job passieren“, sagt Margareta Müller, die selbst nach der Ausbildung als Erzieherin Sozialwissenschaften studiert hat. Das Gutachten stellt zudem heraus, dass durchschnittlich nur 412 Euro pro Vollzeitstelle an Fort- und Ausbildungen getätigt wurden. Mit Blick auf die Kosten für Fortbildungen sei dies ein geringes Budget, so Müller weiter.

Neue Gesetzesänderung befreit Ärzte von Schweigepflicht

In der Arbeit der Jugendämter bilden Meldungen über Kindeswohlgefährdungen generell das „Kerngeschäft“, so Müller. Um diese einzuschätzen, sei bisher empfohlen worden, weitere Experten hinzu zu ziehen. Ärzte durften sich aber aufgrund ihrer Schweigepflicht bislang nicht ohne die Erlaubnis der Eltern mit Kollegen über eine Kindeswohlgefährdung beraten.

Durch eine Gesetzesänderung, die in diesem Jahr in Kraft getreten ist, dürfen Ärzte zudem ihre Schweigepflicht brechen, wenn sie das Kindeswohl gefährdet sehen. Bei einer dringenden Gefahr für das Kind steht es den Medizinern nicht mehr frei, diese Information an das Jugendamt weiter zu geben. Auf der anderen Seite ist das Jugendamt dazu verpflichtet, den Medizinern eine Rückmeldung über die Kindeswohlgefährdungsmeldung zu geben.

Um das Wohl des Kindes zu sichern, gibt es unterschiedliche Maßnahmen. Als letztes Mittel wird das Kind in Obhut genommen. „Eltern müssen dem zustimmen, ansonsten ist es eine Sache für das Familiengericht. Wenn sich die Eltern verweigern, dann ist das eine erhebliche Beeinträchtigung der Kinderrechte. Dann haben die Kinder Pech gehabt, so muss man es leider sagen“, erklärt Müller. Die Jugendämter könnten erst dann eine Inobhutnahme veranlassen, wenn die Eltern freiwillig keine Hilfen zulassen oder wenn akut eine Gefährdung vorliegt.

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