Lichtblick für viele Kinder nach Tschernobyl-Katastrophe
Mogilev-Hilfe
Tschernobyl: Das lag am 26. April 1986 für Franz Tenhagen und Hubert Lechtenberg noch weit weg. Die beiden Vredener sollten in den folgenden drei Jahrzehnten aber hautnah ein Bild davon bekommen, wie die Reaktorkatastrophe eine ganze Region bis auf den heutigen Tag belastet.
"Ich habe das damals in den Nachrichten zwar wahrgenommen, mir aber zuerst noch keine großen Gedanken gemacht", erinnert sich Franz Tenhagen noch gut. "Die Auswirkungen waren ja zuerst noch nicht bekannt", blickt Hubert Lechtenberg zurück. Als die Behörden aber plötzlich auch hier vor dem Verzehr von Gemüse warnten, ahnten auch die Vredener: Die Katastrophe hinter dem Eisernen Vorhang kannte keine Grenzen. Die freigesetzte Radioaktivität betraf nun ganz Mitteleuropa.
Sie geriet in den nächsten Jahren zunächst wieder aus dem Bewusstsein. Bis zum Jahr 1992, erinnert sich Franz Tenhagen: "Dann kam dieser Brief." Der Bürgermeister von Mogilev hatte ihn an seine Amtskollegen in den größeren Städten der Bundesrepublik geschickt. Er bat um Hilfe für seine Bevölkerung, deren Leid kaum noch Beachtung fand - nur rund 280 Kilometer von Tschernobyl entfernt waren die Menschen den Nachfolgen der Katastrophe nahezu ungeschützt ausgesetzt.
Großes Interesse
Das Schreiben aus der weißrussischen Großstadt fiel in Bocholt auf fruchtbaren Boden. Es fand seinen Weg zum Unterbezirk der katholischen Arbeitnehmerbewegung, der KAB. Die griff den Ball auf. "Wir wollten etwas für die Kinder tun", blickt Franz Tenhagen zurück. Doch wer sollte einen Aufenthalt finanzieren? Ein bunter Nachmittag brachte 5000 Mark. "Da kam die Frage auf, warum wir das für Bocholt machen", weiß Franz Tenhagen noch genau. Ein Gedanke griff schnell bei der KAB St. Marien in Vreden um sich: "Das können wir auch!"
Der Kontakt in Richtung Mogilev war über die Bocholter KAB schnell geknüpft. "Wir sind dann in den ersten vier Jahren im Wechsel mit den Bocholtern nach Weißrussland gefahren und haben die Kinder für vier Wochen geholt", schildert Franz Tenhagen die Anfänge. Russisch konnte kaum jemand von den Gasteltern. "Die Verständigung klappte aber mit Händen und Füßen ganz schnell.
Privilegierte Kinder
Den Vredenern wurde aber auch schnell eines klar: Die Stadtverwaltung von Mogilev suchte für den Aufenthalt nicht unbedingt die Kinder aus, die es am nötigsten gehabt hätten. "Die ersten kamen mit Dollars in der Tasche", weiß Tenhagen noch genau: "Das waren die Kinder von Privilegierten."
Die Bekanntschaft mit einem Lehrer aus der Region Mogilev sollte daran jedoch etwas ändern. Er begleitete als Dolmetscher die Jungen und Mädchen - und er erschien den KAB-Verantwortlichen als Gewährsmann für eine bessere Auswahl der Kinder. Die Vredener begleiteten ihn bei der Fahrt nach Weißrussland bis in die kleine Dorfschule am Rande der großen Stadt, in der er unterrichtete. "Auf dem Land ist die Situation völlig anders als in der Stadt", berichtet Hubert Lechtenberg.
Kontakt bleibt
Die Schere zwischen bitterer Armut und halbwegs erträglichen Verhältnissen - sie geht an der Stadtgrenze auseinander. Blasse, stille, fast apathische Jungen und Mädchen lebten dort. Vier Wochen in Deutschland sollten ihr Immunsystem wieder stärken, dass durch die radioaktive Strahlung belastet war.
Der Anfang war schließlich gemacht. Erholungsaufenthalte brachten nun 14 Jahre lang viele Kinder nach Vreden - ihre Zahl summierte sich im Laufe der Zeit auf rund 500. Die Erholungsaufenthalte sind ausgelaufen. "Wir haben keine Gasteltern mehr gefunden", bekennt Franz Tenhagen. Probleme versicherungstechnischer Art kamen hinzu. Doch geblieben ist die Erinnerung an die Jungen und Mädchen, die viele glückliche Stunden in Vreden erlebten - und mancher Kontakt zwischen den Gasteltern und den Gastkindern von damals, die inzwischen selbst erwachsen sind.
Spendenbereitschaft ungebrochen
Hilfsgüter haben im Raum Mogilev in vielen Familien die anhaltende Not gelindert. „42,6 Tonnen sind erst in diesem Jahr dorthin gegangen“, berichtet Hubert Lechtenberg, der die Fahrt begleitet hat: „Die Spendenbereitschaft ist immer noch groß.“ Viele engagierte Vredener wie Franz Tenhagen und Hubert Lechtenberg sind immer wieder selbst mit den Transporten mitgefahren. Die herzliche Gastfreundschaft in Mogilev sei keine oberflächliche Geste, sondern Ausdruck echter Dankbarkeit.
„Die Transporte laufen weiter“, bekräftigt Lechtenberg. 20 Mal sind die Vredener nach Mogilev aufgebrochen, im Laderaum Medikamente, Textilien, Verbandsmaterialien und vieles mehr. Es werde nach wie vor gebraucht. Lechtenberg gibt wieder, was ihm ein weißrussischer Regierungsvertreter gesagt habe: „Was Sie für die Notleidenden machen, kann unser Staat so nicht leisten.“