Der Goldkopf steht mitten auf dem Tisch. Kein Panzerglas schützt eines der berühmtesten Kunstwerke des 12. Jahrhunderts und keine Alarmanlage. Feuchte Finger ohne Handschuhe können die Locken berühren, den kräftigen Augenbrauen nachfahren und den Kinnbart streicheln. Wer will, kippt die knapp 32 Zentimeter hohe Skulptur auf die Seite und überzeugt sich, dass das schöne Antlitz, das 150 Jahre lang irrtümlich als das von Kaiser Barbarossa galt, von innen hohl ist, aber nicht leer. Nachzugucken, was in den winzigen Beutelchen steckt, die dort zum Vorschein kommen, ist ebenfalls möglich. Zumindest im Virteum.
Neugierde und Forschergeist - von Laien wie von Wissenschaftlern - sind dort keine Grenzen gesetzt. Nicht nur dadurch unterscheidet sich das Museum, das an diesem Dienstagabend (17. 1.) eröffnet wurde, von anderen Museen. „Das Virteum“, sagt Prof. Ralf Schaltenbrand, einer der Initiatoren, „ist kein Gebäude, sondern eine virtuelle Plattform für die Geschichte der Region an der Lippe zwischen Münsterland und Ruhrgebiet“. Wer sie betreten möchte, brauche kein Ticket zu kaufen. Es reicht, im Internet die passende Seite (www.virteum.de) zu öffnen, um in den digitalen Lern- und Erfahrungsraum zu treten. Dort wartet nicht nur der goldene Kopf von Cappenberg.
Die alte Synagoge an der Hauptstraße in Bork ist verschlossen, wenn dort nicht gerade ein Konzert oder eine Lesung stattfindet. Ein Klick im Virteum öffnet jederzeit die Tür zu einer der wenigen verbliebenen Landsynagogen im Münsterland, die die Zerstörungswut der Nationalsozialisten überstanden hat.
Rundgang durch die Synagoge
Mehr als 100 Jahre hatte sie der etwa aus elf Familien bestehenden jüdischen Gemeinde in Bork und Selm als Gebetsraum gedient, bis Nazis sie in der Pogromnacht am 9. November 1938 plünderten. Was sowohl diesem Zerstörungsakt widerstand als auch dem bis in die 1980er-Jahre anhaltenden Missbrauch als Lagerraum, ist der unter die Decke gemalte Sternenhimmel. Jeder einzelne Stern an der Decke und jede Fliese auf dem Boden lässt sich beim virtuellen 360-Grad-Rundgang in Augenschein nehmen.
Gudrun Bayer-Kulla, die mit Ralf Schaltenbrand und anderen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die gemeinnützige Virteum gGmbH betreibt, zeigt noch ein weiteres Beispiel: ein Besuch auf der Zeche Hermann, diese schicksalshafte Industriestätte, die Selm 1909 sozusagen über Nacht aufblühen ließ. Und 1926 genauso schnell für eine große Depression sorgte, als mit der Schließung 90 Prozent der arbeitsfähigen Menschen plötzlich arbeitslos waren.
Zeche Hermann besuchen
Das Virteum macht die Gäste mit einigen Kumpels von damals bekannt - und das vor Ort zwischen den wenigen Resten des Bergwerks, die heute noch genutzt werden. Auf dem virtuellen Rundgang schlagen Schwarz-Weiß-Fotos, die der Selmer Heimatverein und einzelne Selmer Familien zur Verfügung gestellt haben, die Brücke vom 21. Jahrhundert in die Vergangenheit.
„Sie müssen sich das so vorstellen, als ob Sie eine dieser Virtual-Reality-Brillen tragen, nur ohne Brille“, hatte es Miran Delija im Dezember versucht zu erklären. Der Geschäftsführende Gesellschafter bei der YNT Studio GmbH aus Mülheim arbeitet für das Virteum und war damals zu Gast im Selmer Ausschuss für Wirtschaftsförderung, Kultur, Stadtmarketing und Partnerschaften. Er hatte in Worte zu kleiden versucht, was seit dem 17. Januar für jeden erfahrbar ist, der durch das Internet surft und dazu noch passende Apps auf sein oder ihr mobiles Endgerät lädt.

Dass der Besuch in dem bundesweit einzigartigen Museum kostenlos möglich ist, hat das Land NRW durch seine Förderung möglich gemacht. 90 Prozent der kalkulierten Gesamtkosten von 580.000 Euro hatte das NRW-Heimatministerium übernommen, den Rest hat die Gesellschaft durch Spenden gedeckt„ Fördergelder und Spenden sind auch weiterhin nötig. Wir sind nie fertig“, sagt Schaltenbrand. Das Angebot werde schließlich kontinuierlich ausgedehnt - nicht nur in Selm.
Lünen auch dabei
„Wir haben inzwischen einen Kooperationsvertrag mit Lünen geschlossen“, sagt Schaltenbrand. Das sei auch mit Werne angestrebt. Für historisch bedeutsame Ereignisse, Orte und Gegenstände existierten schließlich keine kommunalen Grenzen. „Wir möchten den gesamten Raum, den die Lippe verbindet, in den Blick nehmen.“ Dabei gelte es nicht nur, in die Vergangenheit zu blicken. Das Virteum macht in Videos auch bekannt mit Persönlichkeiten der Gegenwart - etwa mit der Tante-Emma-Laden-Besitzerin Elisabeth vom Hofe aus Bork.
Zu dem Kreis der geschichtsinteressierten Menschen, die das Virteum entworfen haben und jetzt mit Leben füllen, gehören neben Schaltenbrand und Bayer-Kulla unter anderem auch Christiane Damberg und Dr. Heinrich Schulze Altcappenberg. „Das Vorhaben war, diese Geschichte interessant und neuartig zu vermitteln und ein Bewusstsein für die eigene Identität vor Ort zu schaffen“, sagt Schaltenbrand. Eine Idee, die er und seine Mitstreiter auch bereits auf anderer Ebene umgesetzt haben. Eine Fachtagung zum besseren Verständnis des sogenannten Barbarossakopfes hatte 2019 auf Initiative des Rotary-Clubs Barbarossa Selm stattgefunden, in dem alle Mitglied sind. Die renommierten Wissenschaftler, die damals zusammenkamen, hatten die Wende gebracht in der Betrachtung des berühmten Goldkopfes.
Strahlkraft
Seit 1886 hatte er als authentisches Bildnis des Kaisers Friedrich I. Barbarossa gegolten. Inzwischen scheint es sicher zu sein, dass es sich um eine Darstellung des heiligen Johannes handelt. Der deutsche Kaiser mit dem roten Bart hatte sie einst seinem Patenonkel Otto von Cappenberg geschenkt. Seitdem befindet sie sich im Kirchenschatz der Cappenberger Stiftskirche. Der Strahlkraft des international gefragten Kunstwerks, das in zahllosen Schulbücher abgebildet ist, hat die neue Erkenntnis aber keinen Abbruch getan. Das beweist der Zulauf zu der am 4. Februar zu Ende gehende Doppelausstellung im Cappenberger Museum am Schloss und im LWL-Museum in Münster anlässlich des 900. Geburtstags von Barbarossa.
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