
© Arndt Brede
Haushaltsdebatte in Selm: „Wir rasen mit Vollgas auf den Abgrund zu“
Haushalt
Der Rat der Stadt Selm hat dem Haushalt für das Jahr 2022 zugestimmt. Nicht einstimmig. Eine Fraktion fürchtet gar, dass Selm „mit Vollgas auf den Abgrund zurast“.
Der Haushalt der Stadt Selm für das Jahr 2022 scheint vor Selbstbewusstsein zu strotzen. Investitionsmaßnahmen für 19,6 Millionen Euro haben ein Rekord-Niveau erreicht. Investitionen in das Infrastrukturvermögen der Abwasseranlagen von 4,8 Millionen Euro und der Straßenanlagen von 3 Millionen Euro seien Standard, sagt die Kämmerin.
Im Gebäude- und Immobilienmanagement seien Investitionen von 7,1 Millionen Euro für den Erweiterungsbau an der Overbergschule, für die Sanierung des Schwimmbades, für den Neubau der Rettungswache und umfangreiche Sanierungsmaßnahmen an den Feuerwehrhäusern geplant.
Die Kämmerin Sylvia Engemann ist mittelfristig zuversichtlich, dass weiteres Wachstum in den Jahren 2024 und 2025 Selm mal wieder positives Eigenkapital bescheren werde. Damit könnte das Haushaltssicherungskonzept ab 2025 entfallen, in dem Selm sich jetzt wieder nach Ende des Stärkungspaktgesetzes Ende dieses Jahres befinden wird.
Immerhin: In den Planungen für 2022 geht die Kämmerei von einem Überschuss in Höhe von 52.000 Euro aus. Wobei das coronabedingte Minus von einer Million Euro aus dem Haushalt isoliert wurde.
13,7 Millionen Euro an Gewerbesteuer plant die Stadt für 2022 ein. Gemeindeanteile an der Einkommen- und Umsatzsteuer werden im Haushaltsjahr 2022 in Höhe von insgesamt 13,7 Millionen Euro geplant.
Steuerhebesätze bleiben unverändert
Ein Signal an die Bürger ist: Der Entwurf der Haushaltssatzung 2022 sieht vor, dass sämtliche Steuerhebesätze unverändert bleiben sollen.
Nicht verschwiegen wird: „Bei planmäßiger Umsetzung aller Investitionsvorhaben ergibt sich mit neuen Kreditaufnahmen eine Gesamtverschuldung von 100 Millionen Euro im Jahr 2022. Davon entfallen dann 33,4 Millionen Euro auf Liquiditätskredite und 66,7 Millionen Euro auf Investitionskredite.“
Deshalb mahnt die Kämmerin: „Zur Sicherung der Investitionsfähigkeit und Bewältigung der Zukunftsaufgaben muss ein Investitionsfonds für finanzschwache Kommunen eingerichtet werden. Langfristig bedarf es einer besseren Verteilung der gesamtstaatlichen Steuereinnahmen für die Kommunen.“
Und: „Weiterhin bedarf es einer Altschuldenlösung, damit die überschuldeten Kommunen die Lasten der Vergangenheit ablegen können und Zukunftsaufgaben wie Klimaschutzmaßnahmen, Digitalisierung und Bildungsperspektiven finanzieren zu können.“
Über diesen Haushalt hatte der Rat abzustimmen. Nicht ohne Anmerkungen der Ratsfraktionen in der Ratssitzung am Donnerstag, 16. Dezember.
CDU-Fraktionschef: Selm wird attraktiver
So sagte Herbert Mengelkamp für die CDU: „Durch die Entwicklung der geplanten Baugebiete Neuenkamp, Erweiterung Fährenkamp, Wohnen am Auenpark und Hüttenbachweg langfristig weitere positive Entwicklungen zu erwarten.“ Die Nachfrage nach Baugrundstücken belege die zunehmende Attraktivitätssteigerung Selms.
Dass sämtliche Steuersätze unverändert bleiben sollen, sei zu begrüßen. Mengelkamp wies jedoch auch auf die statistische Pro-Kopf-Verschuldung von 3700 Euro pro Selmer Bürger hin. Aus eigener Kraft könne Selm aus der Verschuldung nicht rauskommen. Hier seien Bund und Länder gefordert.
Für die SPD verwies Fraktionsvorsitzender Hans-Jürgen Walter auf die schwierige Zeit, bedingt durch die Coronakrise. Er mahnte, die coronabedingten finanziellen Belastungen der Stadt Selm aus dem Haushalt zu isolieren, verlagere die Belastung auf künftige Generationen.
Selm habe sich trotz schwieriger finanzieller Situation in den letzten Jahren städtebaulich kontinuierlich weiterentwickelt. Die politischen Entscheidungen im Rat der Stadt Selm seien richtig gewesen und hätten zu einer deutlichen verbesserten Infrastruktur geführt. Das werde so weitergeführt. Einnahmen werden sich weiter verbessern, sagte Walter und verwies auf weitere Gewerbeansiedlungen und steigende Gewerbesteuereinnahmen.
Lob gab es auch für Investitionen in den Bau einer Rettungswache, in die Bäderlandschaft. Kritik äußerte Walter an mangelndem öffentlich geförderten Wohnraum. Die SPD fordere, je nach Eignung der Baugebiete, einen 25-prozentigen Anteil an öffentlich gefördertem Wohnraum zu erzielen.
„Keine zukunftsweisende Schulpolitik“
Für die UWG kritisierte Dr. Hubert Seier unter anderem „wenig ambitionierte Bebauungspläne, falsch verstandene Investorenmodelle, viel zu wenig Klimaschutzmaßnahmen, keine Bio-Methan Tankstelle, keine zukunftsweisende Schulpolitik“.
Der UWG gehe es darum, „sorgfältig und gewissenhaft zu prüfen, ob unsere gut arbeitende Sekundarschule nicht besser zu einer Gesamtschule weiterentwickelt werden kann“. Er vermisse zudem nach wie vor eine Photovoltaikanlage auf dem Dach der Zweifachturnhalle. Und zum Thema Schulden sagte Seier, dass er auf eine weitere „Bazooka“ von Kanzler Olaf Scholz hoffe, Finanzspritzen also, mit denen der Bund die Coronaschulden der Kommunen abbaue.
Christina Grave-Leismann verwies für Bündnis 90/Die Grünen auf die Grundwerte Ökologie, soziale Verantwortung, aktive Demokratie und Chancengleichheit. Sie stellte Selms elfjährige Klimaschutzpreisträgerin Juli Schlage, die Müll sammelt, als Vorbild heraus.
Grave-Leismann schlug für den Anbau der Overbergschule vor, in der Küche frisch zu kochen, statt sich das Essen liefern zu lassen. „Man könnte mit heimischen Landwirten zusammenarbeiten.“
Weitere Forderungen: Schaffung bezahlbaren Wohnraums für Ältere, weniger Flächenfraß, Bebauungspläne mit sichtbarem Umwelt- und Klimaschutz, die Ludgeristraße und die Bahnhofstraße als Fahrradstraßen auszuweisen, ein Parkraumkonzept.
„Am Gängelband von Land und Bund“
Die Stadt tue zu wenig für Jugendliche, sagte Ralf Piekenbrock für die Fraktion der Familienpartei. Der Antrag auf eine Disc-Golfanlage sei nicht weiter verfolgt worden. Die Mobilität sei kaum verbessert worden. Es gebe nach wie vor keinen Bürgerbus. Er forderte, Elternbeiträge für Kitas und Offene Ganztagsbetreuung abzuschaffen.
Zum Haushalt sagte er: Die Finanzierung sei ungewiss. Die Familienpartei-Fraktion sei skeptisch, was den Gesamt-Haushalt betrifft. Positives Eigenkapital, wie es ab dem Jahr 2025 geplant sei, sei nicht zu erreichen. Selm hänge am Gängelband von Land und Bund. Dass es in Selm keine Steuererhöhungen geben werde, begrüßte Piekenbrock.

Die Häuser an der Kreisstraße ohne Gutachten zu kaufen, hält die FDP für einen Fehler der Stadt Selm. © Sylvia vom Hofe (Archiv)
Für die FDP mit Klaus Schmidtmann an der Spitze hat die Stadt ihre Finanzkraft bei der Sanierung der Dreifach-Halle am Campus Süd überschätzt. „Sechs bis sieben Millionen Euro sind nicht förderfähig.“
Mehr als vier Millionen Euro für den Kauf von Häusern an der Kreisstraße zu kaufen, ohne ein Gutachten, kritisierte Schmidtmann ebenfalls. Die schwarze Null mit einem Plus von 52.000 Euro sei mit Vorsicht zu betrachten. „Kredite werden teurer, weil die Zinsen steigen.“
Die FDP fordert, einige Investitionen zu streichen, auf zehn Millionen Euro zu deckeln, eine Prioritätenliste von der Verwaltung zu erstellen und dann im Rat zu entscheiden. Die FDP werde dem Haushalt nicht zustimmen. „Wir rasen mit Vollgas auf den Abgrund zu.“
„Der Pandemie geschuldet, hat sich die wirtschaftliche Lage leider nicht so entwickelt, wie sie zeitweilig im ablaufenden Jahr prognostiziert wurde“, erklärte Jutta Steiner für die Fraktion Gemeinsam für Selm. Dennoch zeige der Haushaltsentwurf einen positiven Abschluss.
„Es muss der Vorsatz des Rates und der Verwaltung sein, die schwarze Null zu erreichen“, appellierte sie. Dazu sei Einigkeit in allen Fraktionen erforderlich. Das sei im amtierenden Rat nicht oder nicht immer sicher. Positionskämpfe hätten sich bereits störend auf wichtige Entscheidungen ausgewirkt hätten.
Der Rat der Stadt Selm stimmte dem Haushaltsentwurf 2022 und dem Haushaltssicherungskonzept mehrheitlich zu. Die FDP setzte dem zwei Nein-Stimmen entgegen.