Selms Bürgermeister Thomas Orlowski (SPD, rechts) und Verwaltungssprecher Malte Woesmann (links) ließen es auf ein Eilverfahren am Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ankommen – und scheiterten mit dem Versuch, Rechercheanfragen zur Abrechnungsaffäre abzuwehren.

© dpa / Archiv

Abrechnungsaffäre: Sieg für Pressefreiheit und Öffentlichkeit vor Gericht

rnVerwaltungsgericht

Die Stadt Selm ließ sich in der Abrechnungsaffäre vor das Verwaltungsgericht zwingen: Der Sieg für die Pressefreiheit ist auch ein Vertrauensverlust in die Selmer Verwaltung. Eine Analyse.

von Alexander Heine

Kreis Unna

, 15.03.2022, 11:45 Uhr / Lesedauer: 3 min

Seit Bekanntwerden der Abrechnungsaffäre bebt es in der Kommunalpolitik im Kreis Unna. Was sich bislang im Kreistag abspielte, erschüttert nun auch den Stadtrat in Selm: UWG-Ratsfraktionschef Dr. Hubert Seier, der auch Vorsitzender der gemeinsamen Kreistagsfraktion von UWG und Linkspartei ist, soll Fraktionsstunden doppelt abgerechnet haben.
Eine Entwicklung, die auch Fragen zur Rolle der Selmer Stadtverwaltung aufwirft. Die Stadt ließ es auf ein Eilverfahren am Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ankommen, um keine Auskunft geben zu müssen. Pointe vorweg: erfolglos.

Der Kreis antwortete, die Stadt Selm nicht

Von Anfang an war die Stadt Selm bemüht, die Beantwortung von Anfragen zur Abrechnung von Verdienstausfällen in Verbindung mit Ratsarbeit in Selm abzulehnen – in Person von Stadtsprecher Malte Woesmann, vermutlich auf Geheiß von Bürgermeister Thomas Orlowski (SPD). Zur Einordnung: Die Kreisverwaltung hatte angefragte Daten zuvor herausgegeben – anonymisiert hinsichtlich der Kreistagsmitglieder, aber aufgeschlüsselt nach Fraktionen.

Als die Redaktion sich im November erstmals an Stadtsprecher Malte Woesmann wandte, zielte die Berichterstattung über Dr. Hubert Seier noch gar nicht auf eine möglicherweise zwielichtige Abrechnungspraxis ab. Es ging um die Frage, wie viel Zeit man für Kommunalpolitik aufbringen muss – und kann.

Seier, selbstständiger Unternehmensberater, ist kommunalpolitisch schließlich vielfältig im Einsatz: Fraktionschef im Kreistag und Fraktionschef im Stadtrat, noch dazu Mitglied verschiedener Gremien. Für eine Einschätzung wollte die Redaktion von der Stadt Selm wissen, wie viele Fraktions- oder Teilfraktionssitzungen die UWG in der laufenden Wahlperiode durchgeführt hat und wie lange diese dauerten.

Dr. Hubert Seier (UWG) aus Selm ist politischer Tausendsassa. In der Berichterstattung im Rahmen der Abrechnungsaffäre über ihn ging es zunächst nur um die Frage, wie sein vielfältiger Einsatz neben seiner Selbstständigkeit als Unternehmensberater zu leisten ist.

Dr. Hubert Seier (UWG) aus Selm ist politischer Tausendsassa. In der Berichterstattung im Rahmen der Abrechnungsaffäre über ihn ging es zunächst nur um die Frage, wie sein vielfältiger Einsatz neben seiner Selbstständigkeit als Unternehmensberater zu leisten ist. © Alexander Heine

Woesmann antwortete zunächst mit einem fragwürdigen Verweis auf das Landespressegesetz und interpretierte mit Verweis auf personenbezogene Daten einen vermeintlich fehlenden Rechtsanspruch auf Beantwortung der Anfrage. Einen leicht veränderten Tenor der Anfrage konterte er mit der Information, dass Fraktionssitzungen bei der Stadtverwaltung Selm nicht angezeigt werden müssten, weshalb eine Auflistung der Sitzungsstunden nicht vorgenommen werden könne.

Abrechnungsaffäre: Datenschutz gegen die Pressefreiheit

Damit suggerierte Woesmann, dass Ratsfraktionen ihre Sitzungen nicht anmelden und Ratsmitglieder dementsprechend keine Verdienstausfälle geltend machen. Nachdem Seier im Dezember aber selbst eingeräumt hatte, in Verbindung mit seinem Ratsmandat gegenüber der Stadt Selm ebenfalls Verdienstausfälle geltend zu machen, fasste die Redaktion vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung der Abrechnungsaffäre im Januar auch mit Blick auf Marion Küpper (Bündnis 90/Die Grünen) noch einmal nach.

Jetzt lesen

Es ging um die Frage, in welcher Höhe Seier und Küpper Verdienstausfälle geltend gemacht haben und wann die abgerechneten Fraktions- und Gremiensitzungen stattgefunden haben. Woesmann lehnte jetzt mit Verweis auf datenschutzrechtliche Gründe ab.

Jetzt lesen

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen sprach dieser Redaktion in der vergangenen Woche in einem Eilverfahren das Recht auf Auskunft zu. Die Verwendung öffentlicher Steuergelder wie hier für Verdienstausfallentschädigungen sei ein Thema von gesteigertem öffentlichem und kommunalpolitischem Interesse, hieß es in der Begründung der Verwaltungsrichter auch mit Verweis auf das Grundrecht der Pressefreiheit.

„An der transparenten Verwendung von Steuergeldern bzw. öffentlicher Mittel besteht grundsätzlich ein hohes gesamtgesellschaftliches Interesse.“
Aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen

Und weiter: „An der transparenten Verwendung von Steuergeldern bzw. öffentlicher Mittel besteht grundsätzlich ein hohes gesamtgesellschaftliches Interesse, dem die Presse in aller Regel im Rahmen der ihr obliegenden Öffentlichkeitskontrolle dient und zu dienen hat.“

Die Richter kommen zudem zu dem Schluss, dass es „zu den verfassungsrechtlich gesicherten Aufgaben der Presse“ gehöre, „investigativ [...] auch über Verdächtigungen von hohem öffentlichem Interesse zu berichten“. Demnach ist das öffentliche Interesse im vorliegenden Fall gewichtiger als es die datenschutzrechtlichen Belange sind, die die Stadt Selm angeführt hat.

Anwalt: Entscheidung des Gerichts keine Überraschung

Überraschend sei die Entscheidung des Gerichts nicht, sagt Rechtsanwalt Sebastian Fricke, zumal die Voraussetzungen des presserechtlichen Auskunftsanspruchs durch die Rechtsprechung klar umrissen seien. „Schade, dass die Behörden oftmals Gründe zu suchen scheinen, um die Ansprüche abzuwehren“, so der Jurist, der den Auskunftsanspruch vor dem Verwaltungsgericht für diese Redaktion durchgesetzt hat. „Eine effektive Betätigung der Presse setzt aber voraus, dass die Behörden Auskunft über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse geben. Dies hat die Entscheidung einmal mehr bestätigt.“

Verzögerungstaktik: Sollte Gras über die Sache wachsen?

Mit dem neuen Kapitel der Abrechnungsaffäre, das Dr. Hubert Seier in den Fokus rückt, stellt sich umso drängender die Frage, warum die Stadt Selm Auskünfte vehement verweigert hat. Es drängt sich der Eindruck einer Verzögerungstaktik auf. Vielleicht sollte Gras über die Abrechnungsaffäre wachsen, damit die Öffentlichkeit erst gar nichts mitbekommt von den Doppelabrechnungen, die man dann klammheimlich hätte regulieren können.

Jetzt lesen

Jetzt lesen

Für die Bewertung dieser Frage wird mitentscheidend sein, wann die Angelegenheit an die Ermittlungsbehörden übergeben worden ist. Schließlich weiß die Stadtverwaltung spätestens seit Mitte Januar, dass an den Abrechnungen Seiers etwas nicht in Ordnung ist. Sollte die Angelegenheit erst an die Ermittlungsbehörden übergeben worden sein, als die Redaktion konkrete Fragen zu möglichen Doppelabrechnungen stellte und damit im unmittelbaren Zusammenhang des verwaltungsgerichtlichen Urteils am Donnerstag, ließe das tief blicken…

Az.: 15 L 92/22 Verwaltungsgericht Gelsenkirchen