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Enttarnt: Das ist der Spitzenverdiener der Abrechnungsaffäre in Unna
Kommunalpolitik
Hauptfigur in der Abrechnungsaffäre im Unnaer Kreistag ist ein namhafter Politiker von Bündnis 90/Die Grünen. Er selbst hüllt sich in Schweigen – seine Partei verspricht lückenlose Aufklärung.
Die Abrechnungsaffäre im Unnaer Kreistag hat ein parteipolitisches Beben in den Reihen der Bündnisgrünen ausgelöst. Dass Mitglieder ihrer Partei in Verdacht stehen, mit ihrem Kreistagsmandat mehr Geschäft als Politik zu machen, entsetzt den Parteivorstand um die Co-Vorsitzenden Regina Ranft und Maximilian Ziel.
In einem Rundschreiben an Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen zeigte sich das Gremium „sehr besorgt“ und versprach: „Wir werden den Vorwürfen schonungslos nachgehen.“ In einer Pressemitteilung forderte die Parteispitze darüber hinaus „vollste Transparenz und sofortige Aufklärung der handelnden Akteure“. Diese hüllen sich gegenüber unserer Redaktion jedoch weiter in Schweigen.
Abrechnungsaffäre: Timon Lütschen im Kreistag der Topverdiener
Einer von ihnen ist Fraktionschef Timon Lütschen selbst. Recherchen dieser Redaktion belegen zweifelsfrei: Er ist derjenige, der in der Zeit von November 2020 bis Oktober 2021 fast 15.000 Euro an Verdienstausfällen geltend gemacht hat – und damit deutlich mehr als jedes andere Kreistagsmitglied, das selbstständig ist und Verdienstausfälle geltend macht. Das hat auch deshalb ein Geschmäckle, weil der Kamener Geschäftsführer eines noch sehr jungen Unternehmens ist.
Die Priogo Dortmund GmbH ist erst Ende Juli 2020 und somit kurz vor der Kommunalwahl am 13. September in das Handelsregister eingetragen worden. Lütschen ist demnach einer von zwei Geschäftsführern. Das wirft Fragen auf.
Unter anderem nach der Berechnungsgrundlage für die Höhe der Verdienstausfälle Lütschens. Als Unternehmer noch jung, aber schon so erfolgreich? Immerhin hat er schon im November 2020 insgesamt 2357,60 Euro an Verdienstausfall geltend gemacht. Es braucht darüber hinaus keinen überbordenden Geschäftssinn, um sich auszurechnen, dass die Geschäftsführung eines noch jungen Unternehmens zeitaufwändig ist. Trotzdem: Timon Lütschen nimmt sich augenscheinlich viel Zeit für Kommunalpolitik – sehr viel Zeit sogar.
Er ist Kreistagsmitglied und dort Vorsitzender der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Ratsmitglied in Kamen und Mitglied der Landschaftsversammlung. Darüber hinaus ist er Mitglied der ZRL-Verbandsversammlung und zweier Gesellschafterversammlungen.
Wie man als Unternehmensgründer einerseits und als Kommunalpolitiker mit so vielfältigen Aufgaben andererseits alles mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit ausfüllen kann – diese Frage ließ Lütschen genauso unbeantwortet wie alle anderen Fragen dieser Redaktion.
Nachdem er am Donnerstag ein bereits verabredetes Telefonat abgesagt hatte, richtete diese Redaktion ihre Fragen noch am selben Tag schriftlich an den Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen. Die Frist am Montagmorgen ließ er ungenutzt verstreichen; ohne jede Reaktion. Kein Kommentar, keine Aufklärung.
Dabei wäre die von der Parteispitze geforderte Transparenz umso wichtiger. Vor allem, weil sich ein Verdacht geradezu aufdrängt: Nämlich, dass Timon Lütschen sich als Geschäftsführer eines noch jungen Unternehmens über die Kommunalpolitik ein gewisses Grundeinkommen zu sichern versucht. Die Summen, die er generiert, wären jedenfalls mehr als geeignet dafür. Es mag sein, dass alles seine Richtigkeit hat und er Anspruch auf Verdienstausfälle in der genannten Höhe hat. Umso ärgerlicher wäre sein Schweigen.
Fast 35.000 Euro aus dem Ehrenamt Kommunalpolitik
Als Kreistagsmitglied bekommt er gemäß Entschädigungsverordnung 412,30 Euro monatlich und für seine Funktion als Fraktionschef zusätzlich 953,60 Euro monatlich. Das macht insgesamt 16.390,80 Euro von November 2020 bis Oktober 2021 zusätzlich zu den geltend gemachten Verdienstausfällen in Verbindung mit seinem Kreistagsmandat.
Hinzu kommt die Aufwandsentschädigung als Stadtrat in Kamen in Höhe von 206,20 Euro monatlich, dazu noch Kleinbeträge in Form von Sitzungsgeldern auf den unterschiedlichen kommunalpolitischen Ebenen und vergleichbare Posten. Summa summarum hat Timon Lütschen von November 2020 bis Oktober 2021 demnach mindestens 33.801,80 Euro vor Steuern generiert. Ob er in dem Zeitraum auch auf anderen Ebenen Verdienstausfälle geltend machte, blieb zunächst unbekannt.

Timon Lütschen ließ einen umfangreichen Fragenkatalog zur Abrechnungsaffäre im Kreistag Unna bislang unbeantwortet. © Alexander Heine
Wohl gemerkt: 33.801,80 Euro – generiert aus einem Ehrenamt, das die Kommunalpolitik schließlich ist. Aufgefallen, weil das Rechnungsprüfungsamt mit Blick auf die Summen im Raum offenbar misstrauisch geworden ist und im Jahresprüfungsbericht die Empfehlung aussprach, „dass bei Selbstständigen der Verdienstausfall durch einen qualifizierten Nachweis geltend gemacht werden sollte“.
Weitergehende Recherchen dieser Redaktion haben die mutmaßliche Praxis der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen aufgedeckt: Ihre Sitzungen beginnen besonders häufig besonders früh am Tag – mutmaßlich, um die größtmögliche Schnittmenge mit der Kernarbeitszeit zu generieren, die Timon Lütschen mit 9 bis 20 Uhr montags bis samstags angegeben hat. So würde aus dem Ehrenamt Kommunalpolitik tatsächlich ein profitables Geschäftsfeld.
Abrechnungsaffäre: Parteispitze kündigt konsequentes Handeln an
Den Angaben der Parteispitze zufolge haben Timon Lütschen selbst und die Co-Fraktionsvorsitzende Marion Küpper intern bereits Stellung bezogen zu den Vorwürfen gegen ihre Fraktion. „Sollte sich herausstellen, dass es zu Verhalten von grünen Mandatsträgern gekommen ist, das mit den Zielen und Werten unserer Partei nicht vereinbar ist, werden wir dementsprechend konsequent handeln“, heißt es in der Pressemitteilung der Partei.