Einige Kommunalpolitiker im Kreistag Unna scheinen sich über das Ehrenamt ein solides Grundeinkommen sichern zu wollen.

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Aufgedeckt: So können Kommunalpolitiker ihr Ehrenamt profitabel machen

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Es scheint, als könnte Kommunalpolitik ein lukratives Geschäft sein. Jedenfalls für diejenigen, die die Spielräume kennen – und nutzen. Ein Blick in die Abgründe der Lokalpolitik.

von Alexander Heine

Kreis Unna

, 01.12.2021, 05:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Ehrenamt. Qua Definition freiwillig und unentgeltlich. Wie Lokalpolitik. Klar, die Männer und Frauen sitzen nicht wirklich für lau in den Kommunalparlamenten. Die Aufwandsentschädigung ist zumeist allerdings unverhältnismäßig gering gemessen an dem Zeitaufwand, den selbst normale Mandatsträger haben.

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Großer Einsatz für kleines Geld. Gleichwohl scheint es Mittel und Wege zu geben, über Kommunalpolitik ein Einkommen zu generieren, von dem sich im Zweifel sogar ein wenn auch bescheidenes Leben führen ließe. Natürlich aus Steuergeldern. Wer genauer hinsieht, blickt in Abgründe.

Verdienstausfälle: Abrechnungspraxis weckt Misstrauen

Genauer hingesehen hat offenbar auch das Rechnungsprüfungsamt des Kreises Unna. Und es hat sich mit Blick auf die Abrechnungspraxis einiger Mitglieder des Kreistags dazu veranlasst gesehen, mahnend den Finger zu heben: Die Prüfer regen „an, dass bei Selbstständigen der Verdienstausfall durch einen qualifizierten Nachweis geltend gemacht werden sollte.“

Es ist nur eine Art Randnotiz in dem mehr als 170-seitigen Prüfungsbericht zum Jahresabschluss 2020 des Kreises Unna. Aber ein Satz mit Sprengkraft. Es geht um die Abrechnung von Verdienstausfällen.

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Mitglieder kommunaler Vertretungen und Ausschüsse haben Anspruch auf Lohnersatzleistungen. Für die Gremienarbeit etwa in Räten und Ausschüssen genauso wie für die Zeit in Fraktions- und Teilfraktionssitzungen. Das ist so richtig wie wichtig. Schließlich sind Berufspolitiker auf kommunaler Ebene die absolute Ausnahme. Sonst könnten neben Rentnern und Pensionären wohl auch nur Beamte die nötige (Arbeits-)Zeit aufbringen; die haben schließlich das im Landesbeamtengesetz verankerte Recht auf bezahlte Freistellung für die Mandatsausübung in Kommunalparlamenten. Diese Parlamente aber sollen den Querschnitt der Bevölkerung widerspiegeln. Der Gesetzgeber hat deshalb klare und vor allem umfassende Regelungen getroffen.

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Erstens: Niemand darf gehindert werden – auch nicht vom Arbeitgeber –, sich um ein kommunalpolitisches Mandat zu bewerben beziehungsweise dieses dann auch auszuüben. Zweitens: Ausdrücklich auch Arbeitnehmer müssen für ihre Mandatsausübung von der Arbeit freigestellt werden. Drittens: Ist die Mandatsausübung während der Arbeitszeit notwendig, besteht ein Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls, den natürlich auch der Arbeitgeber geltend machen kann. Viertens: Die Höhe des Verdienstausfalls soll sich – innerhalb festgelegter Grenzen – am tatsächlichen Einkommen der Mandatsträger orientieren.

„Topverdiener“: Fast 15.000 Euro allein über Verdienstausfälle

So weit, so gut. Die Punkte drei und vier verschaffen jedoch gewisse Spielräume. Und die scheinen im Kreistag Unna einige wenige Mandatsträger derart auszureizen, dass das Rechnungsprüfungsamt der Kreisverwaltung misstrauisch geworden ist. In Zahlen ausgedrückt: Allein der „Topverdiener“ hat zwischen November 2020 und Oktober 2021 fast 15.000 Euro an Verdienstausfällen im Zusammenhang mit seinem Kreistagsmandat geltend gemacht – und damit rund 8600 Euro mehr als der Durchschnitt der Selbstständigen im Kreistag.

Und das, obwohl zahlreiche Gremiensitzungen in dieser Zeit bedingt durch die Corona-Pandemie ausgefallen sind. Hinzu kommt, dass es sich nach Recherchen dieser Redaktion um eine Person handelt, die für zusätzliche Ämter zusätzliche Entschädigungen erhält und so summa summarum mindestens 29.000 Euro binnen zwölf Monaten vor Abzug von Steuern allein über die Kreistagsarbeit generiert hat.

Zur Einordnung: Nach Auskunft der Pressestelle der Kreisverwaltung haben 17 der mit Landrat insgesamt 69 Kreistagsmitglieder zu Beginn der Wahlperiode einen Antrag auf Geltendmachung ihrer Verdienstausfälle gestellt. Sieben davon sind Angestellte, wovon bislang nur vier gelegentlich oder regelmäßig auch Ansprüche angemeldet haben. Zehn weitere sind selbstständig oder freiberuflich, wovon wiederum einer aufgrund einer Arbeitsunfähigkeit seit Monaten keine Verdienstausfälle mehr erstattet bekommt; er ist in besagten Durchschnitt deshalb nicht einberechnet.

17 Kreistagsmitglieder haben zu Beginn der Wahlperiode einen Antrag auf Geltendmachung ihrer Verdienstausfälle gestellt.

17 Kreistagsmitglieder haben zu Beginn der Wahlperiode einen Antrag auf Geltendmachung ihrer Verdienstausfälle gestellt. © Alexander Heine / Archiv

Doch wie kommt es zu derartigen Unterschieden? Ein Teil der Antwort liegt auf der Hand. Nicht jede Arbeit ist gleich viel wert, das liegt in der Natur der freien Marktwirtschaft. Deshalb müssen Kreistagsmitglieder die Höhe ihrer Ansprüche glaubhaft machen.

Bei Arbeitnehmern ist der Nachweis über Arbeitsverträge oder Lohnabrechnungen relativ leicht und schlüssig, weshalb auf Antrag der tatsächlich entstandene und nachgewiesene Verdienstausfall erstattet werden kann. Bei Selbstständigen ist die Lage komplizierter. Sie können ihren Stundenverdienst nicht immer exakt angeben. Deshalb wird eine Bescheinigung einer Kammer oder eines Berufsverbandes oder auch eines Steuerberaters als Nachweis anerkannt. Es reicht ein Zweizeiler, um eine Verdienstausfallpauschale in Höhe von bis zu 82 Euro je Stunde zu erhalten. Und da setzt die Kritik des Rechnungsprüfungsamtes an, das einen qualifizierten und damit aufschlussreicheren Nachweis als die formlose Bestätigung eines Steuerberaters empfiehlt.

„Selbstbedienungsladen“: So nutzen Einzelne die Spielräume

Die größeren Spielräume aber sind andere – und verleiten manch einen Kommunalpolitiker dazu, hinter vorgehaltener Hand von einem Selbstbedienungsladen zu sprechen. Es geht erstens um die Frage der Kernarbeitszeiten der Einzelnen. Und zweitens um Termine, Dauer und Häufigkeiten von Fraktions- und Teilfraktionssitzungen.

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Und da tun sich die eigentlichen Abgründe dieser Abrechnungsaffäre auf. Weil es offenbar Fraktionen gibt, die trotz anderslautender Empfehlungen und sogar schon Ermahnungen vonseiten der Kreisverwaltung mit Vorliebe zur Kernarbeitszeit tagen – und das am liebsten stundenlang. So drängt sich zumindest der Eindruck auf, dass Einzelne sich über ihr Ehrenamt in der Kommunalpolitik und die damit verbundenen Zahlungen für Verdienstausfälle ein solides Grundeinkommen sichern wollen.

Ein Rechenbeispiel. Wer eine Kernarbeitszeit von 9 bis 20 Uhr an sechs von sieben Tagen die Woche angibt, kann sicher sein, für so gut wie jede Ausschuss- und Kreistagssitzung vollumfänglich Verdienstausfall zu erhalten. Setzt die jeweilige Fraktion ihre Sitzungen entsprechend früh am Tag an und sind die Fraktionsmitglieder dann auch noch entsprechend ausdauernd diskussionsfreudig, lässt sich auch hier jede Stunde abrechnen. So wird aus einem Ehrenamt ein lukratives Geschäft; und vielleicht sogar eine Art Haupteinnahmequelle, sofern ein Steuerberater einen entsprechend hohen Stundenlohn bescheinigt. Recherchen dieser Redaktion belegen, dass diese Rechnung keineswegs abwegig ist.

Abrechnungsaffäre: Fraktionen wurden bereits ermahnt

Die Kreisverwaltung teilt auf Anfrage mit, dass Mandatsträger „aus dem ehrenamtlichen Charakter ihrer Funktion heraus verpflichtet“ seien, „Tätigkeiten, deren Wahrnehmung zeitlich variabel ist, wie etwa die Vorbereitung auf Sitzungen, möglichst in ihre Freizeit zu legen.“

Demnach wurden darüber hinaus die Geschäftsführer der Fraktionen Ende April „gebeten, darauf zu achten, dass Fraktionssitzungen möglichst im Spätnachmittags- oder Abendbereich stattfinden“. Eine Ermahnung, die offenbar verpuffte. Noch immer gibt es Fraktionen, die völlig ungeniert möglichst früh, möglichst lange und möglichst häufig tagen.

Doch es scheint sich etwas zu bewegen. Das Misstrauen des Rechnungsprüfungsamtes und die dadurch angestoßenen Recherchen dieser Redaktion haben dem Vernehmen nach für Aufregung in der Politik gesorgt. Die SPD-Fraktion hat deshalb auch schonmal einen Antrag auf den Weg gebracht, wonach das Einkommen künftig mit einem qualifizierten Nachweis belegt werden soll. „Im Sinne einer nachvollziehbaren Abrechnung“, heißt es in dem Antrag, der gute Erfolgsaussichten hat.

Im Rahmen einer Umfrage unter allen Mitgliedern des Kreistags hat diese Redaktion unter anderem nach einer Novellierung der geltenden Verdienstausfallregelungen gefragt. 61 haben eine Antwort abgegeben, die 55-mal lautete: „Ich bin für einen qualifizierten Nachweis.“ Sechs der Umfrageteilnehmer hielten dagegen die aktuellen Regelungen für ausreichend.

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