Ein Neuanfang, von dem man nicht erzählen möchte Svitlana Krut floh aus der „Stadt der Rosinen“

Ein Neuanfang im Kriegsjahr 2022: Svitlana Krut floh aus Isjum
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Svitlana Krut sitzt am Küchentisch ihrer Wohnung. Sie stellt einen selbst gebackenen Kuchen auf den Tisch, legt ihr Handy mit dem Übersetzungsprogramm daneben und fängt an zu erzählen. Ein wenig stockend – man kennt die Übersetzungsprogramme.

Svitlana und ihr Mann Boris kommen aus der Stadt Isjum – das Übersetzungsprogramm übersetzt das konsequent mit „Rosine“. Isjum ist etwas kleiner als Schwerte und liegt nahe Charkiw im Osten der Ukraine. Svitlana erinnert sich an den Fluss, den Siwerskyj Donez, der durch die Stadt fließt.

Bilder der Stadt vor dem Krieg, man muss sie suchen. Die Schlagzeilen der letzten Monate überlagern Fotos von einem breiten Fluss, der sich durch grüne Landschaften windet; Bilder von Kirchen in Himmelblau und Weiß, mit Zwiebeltürmen; ein Bild aus einem Strandbad mit bunten Sonnenschirmen und voller Menschen, die im Wasser plantschen.

Heute sind es Bilder von Menschen in weißen Overalls, die im Wald Gruben ausheben; dort, wo Massengräber vermutet werden.

Es war die Nacht auf den 24. Februar 2022: Als Svitlana an diesem Morgen aufwachte, war es erst mal nur ein Februarmorgen. Sie musste später zur Arbeit und war überrascht, als sie um 6 Uhr vom Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen wurde.

„Svitlana, schläfst du?“, fragte am anderen Ende der Leitung der Vermieter.

„Nein, was ist los?“

„Der Krieg hat begonnen.“

Auf den Straßen konnte man den Krieg, und das, was noch mit ihrer Stadt passieren würde, erst erahnen. Viele Menschen waren unterwegs. In dem kleinen Supermarkt, in dem Svitlana arbeitete, war bald alles ausverkauft. Sie zeigt Bilder von völlig leeren Regalen.

Einige Tage nach Beginn des Angriffskriegs fotografierte Svitlana die leergefegten Regale in dem kleinen Supermarkt, in dem sie arbeitete.
Einige Tage nach Beginn des Angriffskriegs fotografierte Svitlana die leergefegten Regale in dem kleinen Supermarkt, in dem sie arbeitete. © Svitlana Krut

Um sich an die genauen Daten erinnern zu können, ruft Svitlana den Chat mit ihrer Tochter auf dem Handy auf. Die Tochter lebt in einer Grenzregion in Russland, kann das Land, welches ihre Heimat angegriffen hat, nicht verlassen.

„Mama, bitte melde dich!“, schreibt sie, wenn die Stille zu lang andauert.

„Mama, ich fing an, eine Art Panik zu bekommen, ich kann mich nicht beherrschen. Warum bist du so weit weg?“

Ähnlich wie dieses Haus, wurde auch das Haus von Svitlana und Boris durch einen Luftangriff zerstört. Sie entschlossen sich, zu fliehen. Verwandte von ihnen sind bis heute in der Stadt geblieben.
Ähnlich wie dieses Haus, wurde auch das Haus von Svitlana und Boris durch einen Luftangriff zerstört. Sie entschlossen sich, zu fliehen. Verwandte von ihnen sind bis heute in der Stadt geblieben. © Svitlana Krut

Es dauerte nicht lange, da waren die ersten Explosionen in der Stadt zu hören. Im Chat mit der Tochter sind nun die Orte zu sehen, an denen sich das Ehepaar Krut Anfang des Jahres verstecken konnte. Im Keller eines Gebäudes, in dem ein Freund lebte. Die Bunker der Stadt waren überlastet. Die Geräusche von Sirenen auf den Straßen und die Explosionen in der Stadt wurden schnell zu einem grausamen Alltag.

Anfang März waren Svitlana und Boris mit sieben anderen Personen für sechs Tage in dem Schutzkeller unter dem Haus des Freundes eingesperrt. Die Kämpfe um die Stadt wurden immer heftiger. Eine Granate traf genau ihr Haus. Dann noch eine. Alles stand in Flammen und Rauch füllte den Keller. Die Eingänge waren versperrt und so mussten sie durch ein Kellerfenster hinausklettern.

Im Hinterhof beerdigt

Als sie aus dem Keller befreit wurden, mussten sie rennen. Weg von diesem Keller, der beinahe ihr Grab geworden wäre. Weg von den Ruinen, die nun ihre Heimat waren. In Bussen der ukrainischen Regierung verließen sie Isjum: „die Stadt der Rosinen“ – darauf beharrt das Übersetzungsprogramm.

Auf dem Weg erfuhren Svitlana und Boris, dass ihr Vater und seine Mutter bei einem Angriff gestorben waren. Die beiden hatten in einem Haus in der Stadt ausgeharrt, weil sie es in ihrem hohen Alter nicht bis zu den Schutzkellern oder Bunkern geschafft hatten. Sie wurden im Hinterhof beerdigt.

Ein zerstörtes Haus in der Stadt Isjum. Der Chat zwischen Svitlana und ihrer Tochter füllt sich mit Bildern, die die Zerstörung der Stadt dokumentieren.
Ein zerstörtes Haus in der Stadt Isjum. Der Chat zwischen Svitlana und ihrer Tochter füllt sich mit Bildern, die die Zerstörung der Stadt dokumentieren. © Svitlana Krut

Zu dem Zeitpunkt, an dem sie Isjum verließen, war die Stadt umkämpft, stand zur Hälfte unter ukrainischer und unter russischer Kontrolle. Kurze Zeit später war die Stadt unter russische Kontrolle geraten. Nach der Befreiung der Region Charkiw im September ist die Stadt beinahe völlig zerstört. In einem nahegelegenen Wald wurden Massengräber gefunden. Die Bilder, die einem bei dem Namen Isjum im Gedächtnis bleiben.

Für Svitlana und Boris ging es erst nach Slawjansk, dann nach Lwiw. Dann weiter über Polen nach Berlin. Eine Auffangstation. Dann weiter nach Soest. Und dann kam schließlich Schwerte.

In Schwerte lässt Svitlana Krut ihre Liebe zum Backen aufleben. Selbst gebackener Kuchen steht regelmäßig auf ihrem Tisch und wird an Nachbarn und Freunde verschenkt.
In Schwerte lässt Svitlana Krut ihre Liebe zum Backen aufleben. Selbst gebackener Kuchen steht regelmäßig auf ihrem Tisch und wird an Nachbarn und Freunde verschenkt. © Klara Loser

Die beiden kamen in eine Geflüchteten-Unterkunft in Westhofen. Hier lebten sie einige Monate, mit ständig wechselnden Nachbarn. Über den Arbeitskreis Asyl bekamen sie Kontakt mit Lisa Schulte, die ihre Patenschaft übernahm. Eine Patenschaft bedeutet hier vor allem Unterstützung, wo sie denn notwendig ist. Lisa betont, wie eigenständig und motiviert die beiden sind, mittlerweile leben sie in einer Wohnung auf der Schwerterheide.

Stolz zeigt Svitlana einen Test aus dem Deutschunterricht, bei dem sie gut abgeschnitten hat. Dort gehen sie jetzt jeden Tag hin, zum Deutschunterricht an der VHS. Hier konnten sie auch Kontakte mit anderen Menschen aus der Ukraine knüpfen. Aber auch in der Nachbarschaft kennt man sich.

Beim Ankommen in Schwerte hat auch die Unterstützung durch den Arbeitskreis Asyl geholfen. Patin Lisa Schulte unterstützt das Ehepaar Krut vor allem beim Kontakt mit Behörden.
Beim Ankommen in Schwerte hat auch die Unterstützung durch den Arbeitskreis Asyl geholfen. Patin Lisa Schulte unterstützt das Ehepaar Krut vor allem beim Kontakt mit Behörden. © Klara Loser

Schwierigkeiten gibt es gelegentlich mit den Behörden. Bei der Ankunft wurde Svitlanas Name falsch registriert, sodass sie erst mal „Silvana“ war. Das sorgte gerade bei der Aufenthaltsgenehmigung für Probleme. Auch die Kommunikation mit dem Jobcenter sei nicht immer leicht. Zwar ist Svitlana geschickt im Umgang mit den Übersetzungsprogrammen, doch im deutschen Behördendschungel gerät man mit diesen Fähigkeiten schnell ans Limit. Mit der Hilfe von Patin Lisa Schulte klappt es aber doch immer.

Svitlana und Boris Krut hoffen, dass sie in Deutschland bleiben können. „Wir wollen zurück, aber wir können nirgendwo hin“, sagt Svitlana. Ihr Haus in Isjum ist eine der vielen Ruinen, welche die Straßenränder heute säumen.

Nein, eigentlich ist es kein Neuanfang, von dem man vor dem Hintergrund des Krieges gerne erzählt. Und dennoch ist die kleine Stadt an der Ruhr gerade dabei, ein neues Zuhause zu werden.

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