Kinderschutzbund zu sexuellem Missbrauch „Kinder haben keine Worte dafür, was passiert ist“

Kinderschutzbund zu sexuellem Missbrauch: „Kinder haben keine Worte dafür“
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Die Geschichte von Hana* aus Schwerte, die als Kind über mehrere Jahre von ihrem Stief-Großvater missbraucht wurde, hat viele unserer Leserinnen und Leser betroffen gemacht. Hana ist inzwischen 24 Jahre alt und hat uns ihre Geschichte erzählt.

Täglich hatte ihr Stief-Großvater das Kind, das damals ungefähr zehn Jahre alt war, ausgezogen und berührt. Nachdem sich die Schülerin mit 12 Jahren einer Freundin anvertraute, schritten eine Schulsozialarbeiterin und das Schwerter Jugendamt ein. Die Familie brach den Kontakt zu dem Mann ab. Als Erwachsene erstattete Hana Anzeige – doch bevor es zu einem Prozess kommen konnte, starb der Mann.

Wir haben mit drei Expertinnen des Kinderschutzbundes in Unna darüber gesprochen, wie viele Kinder im Kreis von sexuellem Missbrauch betroffen sind, wer die Täter sind – und wie man als Eltern seine Kinder vor Übergriffen möglichst gut schützen kann.

„Abhängigkeitsverhältnisse gehören zur Täterstrategie“, sagt Diplompädagogin Dr. Henriette Schildberg, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes. Zusammen mit Diplom-Sozialpädagogin Alexandra Pyrkosch und Erziehungswissenschaftlerin Hannah Westermann, die ebenfalls Geschäftsführerin ist, spricht sie mit uns über Hanas Fall – und über viele andere betroffene Kinder. Alle drei sind Familientherapeutinnen.

Henriette Schildberg erklärt, dass Täter über einen langen Zeitraum gezielt dafür sorgen, dass eher ihnen geglaubt wird als dem Kind. „Deine Mama wird enttäuscht von dir sein, du wolltest das doch auch. Du hast doch das Geld oder die Geschenke genommen.“ So etwas seien typische Sätze, mit dem Opfer unter Druck gesetzt und zum Schweigen gebracht werden. Auch Hanas Stief-Großvater hatte dem Mädchen kurz vor den Übergriffen immer wieder ein paar Euro oder Buntstifte geschenkt.

Deckmantel aus Schuld und Scham

Alexandra Pyrkosch arbeitet für den Fachbereich sexualisierte Gewalt. „Fremde Täter sind tatsächlich eher selten“, sagt sie. Rund die Hälfte stamme aus dem sozialen Nahraum. Darunter können Personengruppen fallen, wie z.B. Trainer, Onkel, Nachbarn, Lehrer etc. Davon sind 80 bis 90 Prozent männlich und 10 bis 20 Prozent weiblich. Insgesamt ein Viertel gehören zum engeren Familienkreis.

Genau das sorge dafür, dass die Hemmung, sich jemandem anzuvertrauen, groß ist. Hannah Westermann sagt: „Das ist ein Deckmantel aus Geheimhaltung, Schuld und Scham. Der Täter baut ein Vertrauensverhältnis zur Familie auf.“ Wenn ein Missbrauch bekannt werde, versetze das die betroffene Familie in eine Art Schockzustand. „Was Kinder an der Stelle leisten, wenn sie sich jemandem anvertrauen, ist der Wahnsinn.“

Dem Kind Glauben schenken

Alexandra Pyrkosch betont ebenfalls, wie bemerkenswert es sei, dass Hana sich ihrer Freundin anvertraut hatte – die hatte es daraufhin ihrem Vater erzählt. „Es ist toll, dass der Vater das umgehend an die richtige Stelle weitergegeben hat“, so die Familientherapeutin. Es sei unheimlich wichtig gewesen, dem Kind an dieser Stelle Glauben zu schenken. „Die Erwachsenen haben an dieser Stelle richtig reagiert.“

Doch warum kam es damals nicht direkt zu einer Strafanzeige? Henriette Schildberg erklärt: „Allein mit einer Anzeige ist es nicht getan. Es folgen Aussagen bei der Polizei, eventuell ein Prozess. Die Frage ist, ob die betroffenen Kinder und Jugendlichen in der Lage sind, das durchzustehen.“

Eine Anzeigepflicht bestehe nicht – die Familientherapeutinnen sehen das Dilemma. Denn das Bedürfnis, den oder die Täter zu bestrafen, sei ja da. Hannah Westermann: „Wir haben manchmal Familien hier sitzen, die aus besten Gründen keine Anzeige wollen. Und wir sind in erster Linie für diese Familien verantwortlich.“ In den meisten Fällen komme es aber zu einer Anzeige.

Alexandra Pyrkosch ist beim Kinderschutzbund für den Fachbereich sexuelle Gewalt tätig. Sie sagt: "Es gibt einen Unterschied zwischen guten und bösen Geheimnissen".
Alexandra Pyrkosch ist beim Kinderschutzbund für den Fachbereich sexuelle Gewalt tätig. Sie sagt: „Es gibt einen Unterschied zwischen guten und bösen Geheimnissen.“ © Martina Niehaus

Wie hoch die Anzahl der Fälle im Kreis Unna ist, zeigt der Jahresbericht von 2021. In diesem Jahr hat die Beratungsstelle des Kinderschutzbundes insgesamt 340 Kinder im gesamten Kreisgebiet betreut – 189 Mädchen und 151 Jungen. Die Beratungsgründe sind Mobbing/Cybermobbing, Vernachlässigung, körperliche Gewalt und sexualisierte Gewalt.

Im Bereich sexualisierte Gewalt waren 63 Jungen und 82 Mädchen in der Beratungsstelle des Kinderschutzbundes. Die Familientherapeutinnen betonen jedoch, dass es sich hier nur um die Fälle handelt, die auch bekannt werden. Die Dunkelziffer sei hoch. Insgesamt könne man davon ausgehen, so Alexandra Pyrkosch, dass in jeder Schulklasse zwischen ein und drei Kinder betroffen seien.

Mehr Täter im Netz unterwegs

Die Zusammenarbeit mit den Netzwerken und Jugendämtern vor Ort sei enorm wichtig – und würde auch gut funktionieren. Zusätzlich will der Kinderschutzbund sein Angebot noch weiter ausbauen. Alexandra Pyrkosch: „Wir hoffen, dass wir noch zwei weitere Fachkräfte für den Bereich sexualisierte Gewalt bekommen können, das entscheidet der Kreistag Ende des Jahres.“ Mit dann insgesamt drei Stellen, die zum Großteil vom Land und auch vom Kreis finanziert würden, könne man dann noch mehr Beratungs- und Präventionsangebote anbieten.

Aktuell stellen die Expertinnen gerade sogenannte „Präventionskoffer“ für Kitas und Grundschulen zusammen – mit Spielen, Kinderbüchern und Fachliteratur. Und sie richten ihr Augenmerk auf sexualisierte Gewalt im Netz. „Allein die Fälle von Kinderpornografie haben sich vom Jahr 2020 bis zum Jahr 2021 verdoppelt“, sagt Pyrkosch. Die Hemmschwelle für Täter sei im Netz geringer. „Man kann verdeckter bleiben“, sagt Hannah Westermann. Damit erkläre sich der große Anstieg.

Vorbildrolle der Eltern

Doch auch Eltern könnten einiges tun, um ihre Kinder soweit wie möglich gegen sexualisierte Gewalt zu schützen. „Viele Kinder bei uns in der Beratung haben gar keine Worte dafür, was mit ihnen passiert ist“, sagt Henriette Schildberg. Daher sei es unheimlich wichtig, den Gefühlen von Kindern von Anfang an Worte zu geben.

Hannah Westermann betont dabei die Vorbildrolle der Eltern. „Kinder tun nicht, was wir sagen. Sie tun, was wir tun“, sagt sie. Würde man ständig sagen: „Es ist alles gut“ oder „Es ist nichts“, obwohl man möglicherweise gerade traurig oder verärgert sei, sende man die falschen Signale und verunsichere sein Kind.

Gute und böse Geheimnisse

Genauso solle man sich bei Kindern entschuldigen, wenn mal etwas schiefgelaufen sei. „Die Kinder bekommen dadurch einfach mehr Sicherheit, Situationen einzuschätzen“, so Schildberg. Selbst wenn man das Kind auffordere, das Zimmer aufzuräumen, könne man dabei den Selbstwert des Nachwuchses wahren. Anstatt also zu sagen: „Räum diesen Saustall sofort auf“, könne man sagen: „Wie es hier aussieht, stört mich. Ich bitte dich, dein Zimmer aufzuräumen.“

Alexandra Pyrkosch ergänzt außerdem, wie wichtig es sei, mit Kindern über Geheimnisse zu sprechen. „Kinder möchten niemanden verpetzen. Es ist aber wichtig, zwischen guten und bösen Geheimnissen zu unterscheiden. Man kann Kindern und Jugendlichen klarmachen, an welcher Stelle es einfach wichtig ist, Hilfe zu holen.“ So wie eine Schülerin sich damals in Schwerte getraut hat, ihrem Vater von dem bösen Geheimnis ihrer Freundin Hana zu erzählen.

*Hana hat eigentlich einen anderen Namen. Er ist der Redaktion bekannt.

Der Kinderschutzbund Kreisverband Unna e.V.:

  • Der Kinderschutzbund Kreisverband Unna e.V. ist an der Märkischen Straße 9 in Unna beheimatet. Auch in Selm gibt es Räumlichkeiten im Beratungshaus Nienkamp 28 als zentrale Anlaufstelle.
  • Die betreuten Familien kommen zum Großteil aus Selm, Unna, Lünen, Bergkamen, Werne, Holzwickede, kamen, Fröndenberg, Schwerte und Bönen.
  • Bei der Altersverteilung der Kinder und Jugendlichen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, zeigt sich bei Mädchen und Jungen ein ähnliches Bild: Deutlich sieht man Häufungen von der Mitte der Kindergartenzeit bis zu den 1. und 2. Klassen der Grundschule (4-7 Jahre) und dann wieder mit Beginn der Pubertät (9 bis 15 Jahre).
  • Das Kinder- und Jugendtelefon, die „Nummer gegen Kummer“ (116 111) ist ein Gesprächsangebot für Kinder und Jugendliche aller Altersstufen. Anonymität ist dabei zugesichert. Auch online kann man bundesweit und kostenlos unter www.nummergegenkummer.de anrufen.

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