Vom „Opa“ oder „Großvater“ spricht Hana* nicht. Derjenige, der die heute 24-Jährige als Kind missbraucht hat, ist für sie nur „er“ oder „der Mann“. Nur einmal während des Gesprächs in unserer Redaktion rutscht ihr versehentlich der Begriff „Opa“ heraus. Sofort korrigiert sie sich. „Ich meine, der Mann da.“
Die Studentin aus Schwerte möchte ihre Geschichte erzählen. Die junge Frau mit den dunklen Augen wirkt selbstsicher und offen. Sie lächelt oft und gestikuliert beim Sprechen. „Sie können mich alles fragen“, sagt sie. „Ich schaue, ob ich antworten kann.“ Bei den Dingen, die sie dann erzählt, verfliegt die anfangs lockere Stimmung allerdings schlagartig.
Von ihrem leiblichen Vater habe sich die Mutter bereits früh getrennt, erzählt Hana. „Mein Bruder und ich hatten aber Kontakt zu ihm.“ Ihre Mutter heiratet einen anderen Mann und bekommt mit ihm zwei weitere Töchter. Häufig sind auch die Eltern des Stiefvaters zu Besuch. Die Großeltern passen auf die Kinder auf, während die Eltern arbeiten.
„Dann schloss er die Tür ab“
Der Großvater macht regelmäßig Fotos von den Kindern. „Er hat dauernd Bilder von uns gemacht“, erinnert sich die Studentin. Oft habe er Bilder ausgedruckt und ihnen geschenkt. Im Nachhinein fragt sie sich, in welchen Situationen er auf den Auslöser gedrückt haben mag, ohne dass ihre Mutter es mitbekam.
Denn es dauert nicht lange, bis Hanas Albtraum beginnt. Ungefähr zehn Jahre alt ist sie damals. Die Kinderzimmer liegen im Obergeschoss der Wohnung, nacheinander an einem langen Flur. „Ich habe oft an meinem Schreibtisch gesessen und gemalt. Eines Tages kam er die Treppe rauf und in mein Zimmer. Er sagte, er schaue mir so gern beim Malen zu. Dann schloss er die Tür ab.“
„Der Boden hat so geknarrt“
Der Schwerter zieht seine Stief-Enkelin aus. Dann fasst er sie an. „Überall“, sagt sie. Auch im Intimbereich. „Er hat mich angefasst und auch abgeleckt.“ Als das Mädchen versucht, ihn wegzudrücken, hält er sie fest.
Fast jedes Mal, wenn der Großvater zum Aufpassen da ist, passiert es. Und er ist oft da, mitunter sogar mehrmals täglich. „Wenn mein kleiner Bruder mit im Zimmer war, hat er ihn mit dem Pantoffel rausgejagt.“ Der Flur im Obergeschoss sei mit einem alten Linoleumboden bedeckt gewesen, erzählt Hana. „Der Boden hat so geknarrt. Ich habe ihn immer schon an seinen Schritten erkannt.“
Meistens schenkt er dem Mädchen Malsachen, oder ein paar Euro. Die kleinen Geschenke sind der Auftakt für das, was danach passiert: Entweder zieht er Hana selbst aus, oder er zwingt sie dazu. Dann kommen die Berührungen. „Wenn er ein Geräusch auf dem Flur gehört hat oder dachte, er war jetzt lange genug da, dann lief er immer schnell raus.“
„Ich hasse ihn so sehr“
Fast zwei Jahre lang schweigt Hana. „Ich kam mir so dumm vor, und ich habe mich schrecklich geschämt.“ Dann vertraut sich die Schülerin, inzwischen zwölf Jahre alt, auf dem Schulweg einer Freundin an. Bittet sie, nichts zu sagen. Doch die Freundin erzählt die Geschichte ihrem Vater – und der informiert sofort die Schule. „Am nächsten Tag kam die Schulsozialarbeiterin in den Unterricht und brachte mich zum Jugendamt. Meine Mama war auch da“, erinnert sich Hana.
Notizen aus dem Gesprächsprotokoll des Schwerter Jugendamtes vom Januar 2010 liegen unserer Redaktion vor. Hana hat sie Jahre später gemacht, als sie das Protokoll einsehen durfte. „Ich hasse ihn so sehr“, sagt die damals Zwölfjährige da. „Er packt mich an und leckt mich ab.“ Zu ihrer Mutter sagt sie: „Es tut mir Leid.“
Ihre Mutter bricht in Tränen aus, macht sich Vorwürfe, dass sie nichts bemerkt habe. „Die Mutter hat sich Hana sehr liebevoll zugewendet, die Tränen weggewischt und dabei selbst auch geweint“, steht in den Notizen.
Die Großmutter ist „ausgerastet“
Dann geht es sehr schnell: Gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes fährt Hanas Mutter nach Hause und fordert ihren Schwiegervater auf, sofort die Wohnung zu verlassen. Der Großmutter erklärt sie kurz die Situation – und die verliert die Fassung.
„Sie ist total ausgerastet und hat mir nicht geglaubt“, erzählt Hana. Die Großmutter habe sich „verbal sehr aggressiv“ verhalten, heißt es auch in den Notizen aus dem Gesprächsprotokoll. „[Sie] verteidigte ihren Ehemann, hatte jedoch keine Sekunde an Hana gedacht und daran, was dem Kind vielleicht passiert sein könne.“
Auch der Stiefvater des Mädchens weiß anfangs nicht, was er glauben soll. Mehrmals spricht er mit seinem Vater. In diesem Zeitraum meldet sich eine weitere Verwandte zu Wort und erklärt, ebenfalls von dem Schwerter missbraucht worden zu sein. Hana: „Da war allen klar, dass ich mir das nicht ausgedacht habe.“ Die Großmutter trennt sich von ihrem Mann.
Zu einer Strafanzeige gegen den Schwerter kommt es anfangs nicht – Hana möchte damals nicht, dass ihr leiblicher Vater davon erfährt. Über die Taten spricht niemand mehr. Jahrelang. Hana sagt: „Ich habe verdrängt, was passiert war. Ich hatte danach eigentlich eine schöne Jugend, und eine enge Bindung zu meiner Mutter. Sie konnte nichts dafür.“
„Ich wollte ihn vor Gericht sehen“
Als sie 20 Jahre alt ist, kommt alles wieder hoch. Die Scham, die Wut. Sie entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung. Die äußert sich unter anderem in Blackouts: „Dann spüre ich diese Berührungen körperlich, immer wieder.“ Manchmal kann Hana drei Tage lang gar nicht schlafen, dann schläft sie tagelang am Stück. Ihr damaliger Freund, dem sie alles erzählt, reagiert verständnisvoll und unterstützt sie.
Hana fasst einen Entschluss. Sie nimmt sich eine Anwältin und stellt Strafanzeige. Der Weiße Ring als Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern unterstützt die junge Frau. Die Staatsanwaltschaft Hagen leitet ein Ermittlungsverfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ein, Hana ist die Geschädigte. „Ich habe es meiner Mutter erzählt. Ich habe mich stark gefühlt, konnte etwas bewirken“, sagt sie. „Ich wollte ihm in einem Prozess als Nebenklägerin in die Augen sehen.“
Doch dazu kommt es nicht. Vor dem Gerichtstermin stirbt der Mann, der Hanas Stief-Großvater war, nach schwerer Krankheit im Krankenhaus. Und gegen Tote kann nicht mehr ermittelt werden. „Das war ein krasser Schock. Ich hatte ihn vor Gericht sehen wollen.“ Um abzuschließen, organisiert die junge Frau eine Bestattung im Freundes- und Familienkreis, auf der sie eine Rede an der Urne hält und das Thema anspricht.
Malen kann Hana nicht mehr
Auf dieser Trauerfeier sagt sie: „Was geschehen ist, ist geschehen. Und ich werde diesen Fels ein Leben lang vor mir herschieben. Egal wohin ich gehe, er wird mich begleiten. Aber meine Familie schiebt fleißig mit.“ Hana möchte keine Vergeltung. Aber sie möchte erzählen, was ihr passiert ist. „Mir war wichtig, dass meine Familie, meine Freunde, alle davon erfahren.“
Sie überlegt auch, ob sie irgendwann mit Jugendlichen über ihre Geschichte sprechen möchte. Das Thema Missbrauch sei wichtig und würde oft noch tabuisiert. Doch zunächst steht eine mehrwöchige Therapie in einer Klinik an. Dort werden verschiedene Bewältigungsstrategien angeboten. Unter anderem gibt es eine Maltherapie. Mit einem schiefen Lächeln sagt Hana: „Daran werde ich wohl nicht teilnehmen.“
Denn die Leidenschaft fürs Malen hat der Mann, der Hana damals so gern dabei zugeschaut hat, für immer zerstört.
* Hana heißt in Wirklichkeit anders. Sie hätte gern ihren echten Namen genannt. Doch um die Anonymität der Familie zu wahren, haben wir uns entschieden, ihren Namen zu ändern.
Hier können Opfer Hilfe bekommen:
- Der Weiße Ring hat seit 1976 mit derzeit 420 Anlaufstellen ein bundesweites Hilfsnetz für Kriminalitätsopfer aufbauen können.
- Das Opfer-Telefon ist unter 116 006 bundesweit kostenfrei und anonym zu erreichen, an 7 Tagen in der Woche von 7 bis 22 Uhr.
- Mehr als 3.000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen den Opfern und ihren Familien mit Rat und Tat zur Seite, leisten menschlichen Beistand und persönliche Betreuung, geben Hilfestellung im Umgang mit Behörden und helfen bei der Bewältigung der Tatfolgen.
- Wie man Missbrauch bei Kindern verhindern kann, kann man im Internet bei der Polizei unter www.missbrauch-verhindern.de erfahren.
- Um die Arbeit des Weißen Rings zu unterstützen, kann man spenden. Auch hierzu gibt es Informationen auf der Homepage unter www.spenden.weisser-ring.de. Die IBAN lautet: DE26 5507 0040 0034 3434 00.
- Auch der Kinderschutzbund Unna hat eine Hotline. Rund 10.000 Mädchen und Jungen im ganzen Land wählen täglich die „Nummer gegen Kummer“; die meisten sind zwischen 10 und 16 Jahre alt. Die Nummer lautet 116 111 oder 0800 – 111 0 333.
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