Schwerter kommen ins Gespräch

Lebende Bücher: Flüchtlinge und Helfer erzählen

Zum ersten Mal wagte die Stadtbücherei das Experiment. Statt Bücher waren Menschen im Angebot. Eine halbe Stunde im Gespräch mit Flüchtlingen, Helfern oder Organisatoren von Flüchtlingshilfe. Ein mutiger Vorstoß, der auch deutlich machte, woran es oft fehlt: an dem Mut, persönlich ins Gespräch zu kommen. Das haben die Lebenden Bücher erzählt.

SCHWERTE

, 12.12.2015 / Lesedauer: 6 min

Im Gespräch: Karla Mattusek mit Noor und Zainab.

Karla Mattussek hat den Schritt gewagt. Sie sitzt an einem Tisch in der Café-Ecke der Stadtbücherei mit den Schwestern Noor und Zainab, die 2014 aus Bagdad geflohen sind und im Herbst in Deutschland ankamen. „Ich wollte wissen, warum sie gerade nach Deutschland gekommen sind“, erzählt sie. „Ich bin ja als Kind auch als Flüchtling nach Schwerte gekommen – 1945 aus Pommern, da waren wir auch nicht gerade willkommen.“

Mit Betroffenem reden

Daneben sitzt Mahmoud aus Syrien mit dem Ehepaar Arndt. Die beiden wohnen in Ergste und möchten gerne bei der Flüchtlingsarbeit helfen. Und da sei es doch am besten, mal einen direkt Betroffenen zu fragen. 

Alex studiert Lehramt und arbeitet in der Erwachsenenbildung: Er findet Lino besonders spannend. Der Student hat, ohne einer Hilfsorganisation anzugehören, auf dem Balkan Flüchtlinge versorgt. „Ich wollte einmal abseits von den Medien erfahren, wie es in den anderen Ländern ist.“ Nein, er selbst würde wohl nicht spontan nach Serbien oder Ungarn aufbrechen. Aber das Gespräch würde ihm als Lehrer in der Erwachsenenbildung schon helfen.

Direkt am Eingang der Bücherei steht Dirk Bruchmann an einem Stehtisch. Vor ihm die Berichte der Ruhr Nachrichten über die Geschichten der Bücher. Als Büchereikarte aufgearbeitet und laminiert. Hier kann man sich eintragen oder fragen, ob das reservierte Buch schon frei ist.

Vier Lebende Bücher

Insgesamt vier Personen - zwei Flüchtlinge und zwei Helfer - erzählten uns ihre persönlichen Geschichten. Sie sollen einen kleinen Einblick in die Aktion geben. Das haben die "Lebenden Bücher" erlebt:

Lino (26): Mit dem Auto zum Helfen an die Grenze

Ein Freund aus Wuppertal hatte Lino auf die Idee gebracht. „Es war, als die ersten Fernsehbilder von Flüchtlingen auf der Balkanroute zu sehen waren“, erzählt er. Mit einigen Freunden beschlossen sie, privat Richtung Ungarn aufzubrechen. „Cars of hope“ – Autos der Hoffnung, nennen sie ihre Hilfsaktion. Denn mit privatem PKW und Sachspenden, wie Kleidung im Gepäck, fahren sie spontan dorthin, wo die Flüchtlinge stranden.

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An einer Verladestation, wo die Menschen eingesammelt und mehr oder weniger in Züge gesperrt wurden, absolvierten die Freiwilligen ihren Einsatz. Sie kauften die Supermärkte der Region leer. Sie besorgten Wasserflaschen, Müsliriegel und Obst, um es durch die Fenster in den Zug zu reichen. Denn das Betreten der Züge war streng verboten. „Man hat den Leuten weder gesagt, wo sie hinfahren, noch wann es weitergeht.“

Zweimal war Lino nun bereits vor Ort. Beim zweiten Mal ging es in ein Durchgangslager an der serbisch-kroatischen Grenze, wo die Helfer auf schlimme Zustände trafen und erfahren mussten, dass Hilfe hier als Einmischung verstanden wurde. „Immer wieder mussten wir ohne offensichtlichen Grund zwischendurch das Camp verlassen. Was in dieser Zeit passierte, haben wir nie erfahren“, erzählt Lino. Als nächstes peilt er eine Hilfsreise nach Griechenland an. Warum er sich im Ausland für Flüchtlinge einsetzt? „Hier sind die schon ganz gut versorgt“, entgegnet er. "Ich wollte dorthin, wo es wenig Hilfe gibt."

Mahmoud (24): Aus Damaskus vor dem Krieg geflohen

Im Oktober 2013 beschloss Mamoud, seine Heimatstadt Damaskus zu verlassen. Schon seit Jahren tobt hier der Bürgerkrieg. Seine Reise über die Türkei und die Balkanroute bis nach Schwerte dauerte knapp ein Jahr. Dabei ging es verhältnismäßig ruhig los. Bis in den Libanon waren Mahmoud, sein Cousin und zwei weitere Bekannte ohne weiteres gekommen. Auch die Reise von dort mit einem Flugzeug in die Türkei war mit syrischem Pass damals noch offiziell möglich. Am Ende stranden die vier aber mit vielen anderen Flüchtlingen erst in Istanbul, dann in Izmir.

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In den Gaststätten und Teestuben dort, werden sie immer wieder von Landsleuten angesprochen, die für Schlepperbanden unterwegs sind. Im Sommer 2014 willigen sie ein. Etwas über 1000 Dollar soll die Reise mit einem Schlauchboot auf die griechische Insel Samos kosten. Doch der erste Versuch scheitert, weil das griechische Militär die Strände bewacht. Dreimal habe man die zehnstündige Fahrt über die Ägäis gewagt, erzählt Mahmoud. Am Ende landeten sie doch auf Leros.

Von dort machten sie sich zu Fuß auf den Weg. Auch weil das Geld mittlerweile alle war. Einen Monat dauerte der Weg: per Anhalter, mit dem Zug, meistens aber zu Fuß. „Wir hatten Glück, weil der große Flüchtlingsstrom erst später begann“, erzählt er. Heute ist Mahmoud anerkannter Asylant und hat ein Bleiberecht. Am Dienstag begann er ein Freiwilliges Soziales Jahr im Marienkrankenhaus.

 

Batua (51): Familie floh aus Angst vor den Terroristen

Zweimal verließ Batua Hussein sein Haus im Süden von Bagdad durch die Hintertür. Beim ersten Mal brachte er seine Frau und Töchter in Sicherheit. Beim zweiten Mal sich selbst. Seitdem hat der Englischlehrer sein Heim nicht mehr betreten. Die Familie trat die Flucht an. Das war im Juli 2014. „Nachdem die Amerikaner abgezogen sind, haben sie immer mehr Terroristen aus den Gefängnissen frei gelassen“, erzählt der 51-Jährige. Als die dann noch erfuhren, dass er und seine beiden Töchter Übersetzungsarbeiten für die Amerikaner gemacht hatten, mussten sie um ihr Leben fürchten.

Die Flucht führte die fünfköpfige Familie zunächst in die Türkei. Doch das entpuppte sich als Sackgasse. „Wir durften nicht arbeiten, mussten eine Wohnung mieten und Vorräte kaufen“, erzählt Batua. Deshalb investierten sie ihr Geld in einen Schleuser. Erst im dritten Versuch klappte die Fahrt über das Mittelmeer. Der Schleuser hatte ihnen versprochen nicht mehr als 35 Menschen auf das kleine Schlauchboot zu lassen.

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Doch es waren 45 Personen, die dann in Griechenland an Land gingen, erzählt Sohn Omar. Der 21-jährige Student hatte sich dem griechischen Militär bei der Landung als Übersetzer angeboten. Er ist übrigens der Einzige aus der Familie, der Schwimmen kann. Aber zu diesem Zeitpunkt sei man so verzweifelt gewesen, dass man das Risiko in Kauf genommen habe.

Der Weg führte dann über die Balkanroute. Durch Mazedonien und Serbien. Am Tag bevor die Ungarn ihre Grenzen geschlossen haben, passiert die Familie den Schlagbaum. Am 17. September erreichen sie Dortmund in einem überfüllten Zug. Am 30. Oktober postet Omar auf Facebook:

„Some day i will drive my kids home to iraq and show them the way i walked and suffered for a better life.“ (Eines Tages werde ich mit meinen Kindern Heim in den Irak fahren und ihnen den Weg zeigen, den ich gegangen bin und erlitten habe für ein besseres Leben.“) 

Dazu eine Skizze der Route aus einem Navi ¨– zwei Stunden hätte man mit dem Auto für die Strecke gebraucht, auf dem die Familie fast zwei Monate unterwegs war. „Dass wir hier sind, ist ein Traum“, sagt der Student.

Eine Freiheit, die auch seine Schwestern schätzen. „Direkt hinter der türkischen Grenze haben wir das Kopftuch weggeschmissen“, erzählt die 22-jährige Noor. Derzeit lebt die Familie im Übergangsheim am Großen Feld in einem Raum. Manchmal fahren sie zum Hof Sonnenregen, wo Vater Batua bei der Pferdepflege hilft. In Kürze beginnt ihr Deutschkurs. Was danach kommt? Vater Batua weiß es nicht. Doch die Husseins sehen optimistisch in die Zukunft.

 

Torsten: Kinderarzt unterstützt Flüchtlinge

Über eine Patenschaft für den Arbeitskreis Asyl kam Torsten Kiesheyer zur Arbeit mit den Flüchtlingen. Heute ist er beim Arbeitskreis vor allem für die Organisation tätig. Denn mit den immer größer werdenden Flüchtlingszahlen stehen auch die ehrenamtlichen Helfer in Schwerte vor immer größeren Herausforderungen.

Da muss Sprachunterricht organisiert, Papierkram erledigt oder Fahrten organisiert werden. Wieviel Zeit nimmt das in Anspruch. Der Kinderarzt mit Praxis in Hagen lacht: „Wenn sie meine Frau fragen, 20 Stunden, wenn Sie mich fragen zehn.“

Doch der Einsatz lohne. Ständig habe man mit Menschen zu tun, die man so nicht treffen würde. Und wenn man sieht, wie sich Neuankömmlinge hier entwickeln, sei das auch schön. Natürlich gibt es auch frustrierende Momente und Asylbewerber, die nicht ohne Grund Deutschland wieder den Rücken kehren müssen. Aber das gehöre eben auch dazu und sei ja die Sache der Behörden.

Es sei vor allem aber kein Grund, den Menschen nicht zu zeigen, dass sie bei ihrem Aufenthalt hier willkommen sind. Wer sich in der Bücherei der lebenden Bücher für ein Gespräch mit Torsten Kiesheyer einträgt, kann sich natürlich auch darüber erkundigen, wie er sich selber beim Arbeitskreis Asyl einbringen kann.

Keine Zäune bauen

Auch Sozialdezernent Hans-Georg Winkler ist an diesem späten Nachmittag in die Bücherei gekommen und mischt sich unter Lebende Bücher, Bibliothekare und Büchereigäste. Immer wieder muss er im Gespräch erklären, warum Turnhallen belegt werden und wie man die Flüchtlinge integrieren will.

Alles kann er nicht beantworten, doch zumindest in zwei Dingen gibt er sich unnachgiebig: „Wir müssen allen Menschen, die uns zugewiesen werden, ein Obdach anbieten. Und Zäune sind mit mir nicht machbar.“ Denn während in der Stadtbücherei um Verständnis und das friedliche Miteinander geworben wird, werden anderswo, wie auf der Heide, die Rufe laut, man müsse die Turnhallen, die mit Flüchtlingen belegt sind, doch einzäunen.

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Im Großen und Ganzen ist Büchereileiterin Anja Stock zufrieden mit der Aktion, die gemeinsam von der Bücherei, dem Integrationsrat und dem Arbeitskreis Asyl organisiert wurde. „Wir hatten eine riesige Resonanz auf die Aktion“, stellt sie fest. Aber das Ganze sei eben auch mit einer gewissen Scheu verbunden, das direkte Gespräch sei für viele Menschen dann doch eine Hürde. „Ich schätze, wenn man das Format öfter anbietet, legt sich das auch“, glaubt sie. Denn bislang kommen vor allem Menschen, die ohnehin den Flüchtlingen mehr oder weniger vorbehaltlos begegnen.

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