Schwerter Familie aus Afghanistan erzählt: So lebten wir unter den Taliban

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Schwerter Familie aus Afghanistan erzählt: So lebten wir unter den Taliban

rnAfghanische Flüchtlinge in Schwerte

2015 kamen Reza Gholami und Fariba Ashuri aus Afghanistan. In Schwerte sind sie zuhause, doch sie haben Angst um ihr Heimatland. Was es heißt, unter den Taliban zu leben, erfuhren sie als Kinder.

von Klara Loser

Schwerte

, 19.08.2021, 17:05 Uhr / Lesedauer: 5 min

Reza Gholami ist 1989 in Masar-e Scharif geboren, die Stadt, die später einmal Bundewehrstützpunkt werden würde.

Fariba Ashuri kam 1994 im etwa 170 Kilometer entfernten Kunduz auf die Welt. Auch hier hier würde einmal die deutsche Bundeswehr stationiert sein.

Kindheit unter den Taliban

Die Kindheit beider war von den Jahren der Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001 geprägt. Und dennoch lebten sie grundlegend unterschiedliche Realitäten: Reza als Junge, Fariba als Mädchen.

Reza: Keine kurzen Hosen beim Fußballspielen

An die Gewalt kann sich Reza nicht erinnern, oder zumindest erzählt er kaum von ihr. Sein Vater habe von all den Toten erzählt, die die Straßen säumten. Von all denen, die in den angrenzenden Straßen des Stadtviertels gestorben waren.

Seine persönlichen Erinnerungen sind die eines Jungen, der das große Ganze noch nicht kannte, nicht verstand. Etwa die verpflichtenden Moschee-Besuche fünfmal täglich. Erschien man nicht zum Gebet, gab es Hiebe mit einem Holzstock auf die Fußsohlen, je öfter man fehlte, desto mehr wurden es. Es gab keine Ausreden, nicht beten zu können.

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Das Fußballspielen sei seine große Leidenschaft gewesen. Nach der Schule habe er mit seinen Freunden immer auf der Straße gespielt. Dabei durften sie keine kurzen Hosen tragen. Es durfte nur so viel Haut wie unbedingt nötig gezeigt werden: Alles andere wäre haram – verboten. Reza scheint selbst ungläubig darüber, dass er unter diesen Regeln aufwachsen musste.

Fariba: Sie sah die Außenwelt nur durch die Burka

Fariba hat solche Geschichten nicht. Als Mädchen durfte sie nur in Begleitung eines männlichen Familienmitglieds das Haus verlassen. Und dann auch nur in Vollverschleierung. Die Außenwelt war für sie lange nur durch den Gitterstoff der Burka erahnbar. Sie konnte nicht auf der Straße spielen, einkaufen gehen, sich mit anderen Kindern treffen. Sie hat keine Bildung erhalten.

Hoffnung auf eine Zukunft

In den Jahren nach der Invasion der NATO-Truppen ab 2001 wurde Afghanistan freier. Reza machte eine Ausbildung zum Schneider. Er eröffnete sein eigenes Geschäft für Damenmode, legte Herz und Seele in seine Arbeit. Das sei das wahre Afghanistan gewesen. Diese Jahre, in denen es Hoffnung auf eine bessere Zukunft gab. In denen das Bildungssystem ausgebaut wurde und eine demokratische Regierung aufgebaut wurde.

Dass es im Endeffekt scheitern würde, hätte man jedoch ahnen können, meint Reza. Denn wieder waren es ausländische Mächte, die versuchten, ein neues System zu etablieren. Wie es in der Geschichte Afghanistans schon so oft zuvor geschehen war.

Und dennoch sei in der Bevölkerung der Wille da, einen funktionierenden Staat aufzubauen – nicht einen der Taliban.

Taliban-Kämpfer patrouillieren in Kabul.

Taliban-Kämpfer patrouillieren in Kabul. © picture alliance/dpa/AP

Liebeshochzeit wird zur Lebensgefahr

Doch auch diese Jahre bedeuten keine Sicherheit für die Bevölkerung. Im Jahr 2012 lernen Reza und Fariba sich kennen – und verlieben sich. Fariba soll eigentlich einen anderen Mann heiraten, den ihre Familie für sie ausgesucht hat.

Sie setzt ihren eigenen Willen durch und heiratet Reza. Kurz darauf bekommen sie Drohungen von Taliban. Der Grund: Die beiden gehören unterschiedlichen ethnischen Gruppen an. Er den Hazara, sie den Usbeken. Er ist damit schiitisch, sie sunnitisch. Nach den Gesetzen der Taliban ist das verboten.

Die beiden verlassen das Land. Sie lassen ihre Familien zurück, Rezas Geschäft, welches gut läuft. Sie lassen ihr Land zurück, das sie lieben. Kurzum: ihr Leben und ihre Heimat. Im Iran, genauer gesagt in Teheran, sind sie nicht lange. 2013 wird hier ihre Tochter Sawgand geboren.

Doch die junge Familie wird abgeschoben, muss zurück nach Afghanistan. Sie wissen, dass sie dort nicht lange bleiben können. Sie sind in einer Stadt, in der sie sich fremd fühlen, in dem Land, welches sie eigentlich ihre Heimat nennen.

Die Flucht nach Europa

Wieder gehen sie zurück über die Grenze in den Iran. Danach in die Türkei. In Istanbul hören sie sich um, wie sie nach Griechenland, nach Europa gelangen können. Sie trauen den Schlepperbanden nicht. Sie kennen die Geschichten von anderen Flüchtlingen, die ihr Erspartes für leere Versprechungen bezahlten. Am Ende gehen sie ein Risiko ein, das Geld erhalten die Schlepper jedoch erst, wenn sie in Griechenland sind.

In der Nähe von Izmir kommt es zu einem Zwischenfall: Reza, Fariba und ihre Tochter sind eingezwängt mit um die 70 anderen Flüchtenden auf der Ladefläche eines kleinen Lkw. Von draußen hören sie Schüsse. Die Kugeln verpassen Faribas Bein nur knapp. Sie denken, dass es die Polizei war. Später erfahren sie, dass aus dem Dorf eine Art Wegzoll für jeden passierenden Transporter verlangt wird. Der Fahrer hatte sich geweigert, diesen zu zahlen. Daraufhin fielen die Schüsse.

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An der Küste wartet das Schlauchboot. Die Bilder sind uns allen noch im Gedächtnis. Es ist 2015, nachts, und es regnet. 75 Menschen drängen sich auf das Boot. Sie alle wissen, wie unsicher die Überfahrt ist. Die Angst ist ihnen in die Gesichter geschrieben. Selbst die zweijährige Sawgand spürt die allgegenwärtige Angst. Sie hält die ganze Bootsfahrt über die Augen geschlossen. In Europa wird die Weiterreise einfacher, die Grenzen sind offen.

Insgesamt sind sie fünfunddreißig Tage unterwegs – und haben allein für Schlepperbanden umgerechnet circa 6000 Euro bezahlt. Dazu kommen Unterkünfte, Verpflegung und weitere Transportkosten.

Ein neues Leben

In Schwerte leben sie erst drei Monate in einem Flüchtlingsheim, bevor sie eine Einzimmerwohnung finden. Schließlich finden sie eine gemütliche Dreizimmerwohnung im Zentrum. Die ersten Monate in Schwerte werden zu großen Teilen von Deutschkursen beansprucht. „Als wir angekommen sind, haben wir gesagt, wir schließen mit unserem alten Leben ab und fangen neu an“, erzählt Reza.

Zwar trauert er seinem Schneidergeschäft noch nach, aber in Deutschland sei dies keine Zukunftsperspektive. Zu viel Fast Fashion, meint er. Also beginnt er eine Ausbildung bei den Stadtwerken. Seinen Abschluss macht er früher als geplant. Mittlerweile hat er einen Ausbilderschein und macht seine Weiterbildung zum Meister.

Sie sind heute in Deutschland angekommen, haben einen Freundeskreis, Sawgand geht in die dritte Klasse. Sie sind hier zuhause. Und doch vermissen sie ihre Heimat.

Was sie heute am meisten an Afghanistan vermissen? Alles. Abends essen gehen und durch die Straßen ihrer Heimat schlendern. Umgeben von diesem Gefühl, dass man in der Fremde nicht zurückbekommen kann. Egal, wie gut man sich integriert. Das Land und die Menschen sind nicht der Krieg, den wir hier zu Gesicht bekommen.

Menschen besuchen einen Markt in der Altstadt von Kabul.

Menschen besuchen einen Markt in der Altstadt von Kabul. © picture alliance/dpa/AP

Leere Versprechungen und Zukunftsängste

Sie glauben nicht daran, dass es ein friedliches Afghanistan unter den Taliban geben kann. Glauben nicht an die Versprechungen, dass jetzt alles anders sei. Dass Mädchen weiter zur Schule gehen könnten. Dass niemand sich vor Gewalt zu fürchten brauche. All das sei lediglich die Ruhe vor dem Sturm.

Vor allem Fariba betont die Angst, in der Frauen dort aktuell leben. Cousins von Reza schickten ihre Töchter in die Stadt, um sich dort zu verstecken. Vor den Taliban, die alle Mädchen und Frauen ab dem Alter von 12 Jahren verheiraten wollen. Ihre Zukunft ist ungewiss, aber sie rechnen mit dem Schlimmsten. Die Erinnerungen an das letzte Mal sind noch nicht verwaschen.

Sie hat Angst um ihre Familie. Letzte Woche seien Bekannte in Kämpfen gestorben. Zu ihrer Familie bekommt sie keinen richtigen Kontakt. Das Netz ist überlastet. Einige sind auf der Flucht.

Ashraf Ghani habe das Land verkauft, als er geflüchtet ist. Ob aus Angst oder für Geld sei egal. Er hätte für ein freies Afghanistan kämpfen müssen. Für die Menschen, die ihn gewählt, die ihre Hoffnungen in ihn gelegt haben. Für die Menschen, die er ohnehin seit Jahren enttäuschte.

Sie wollen auf eine bessere Zukunft hoffen. Dass ihr Land eines Tages in Frieden leben kann und die Welt seine Schönheit und Vielfalt erkennt. Doch der Weg bis dahin ist ein langer, auf dem zu viele Hindernisse zu liegen scheinen.

Dankbar für ihr heutiges Leben

Trotz all der Sorge sind Fariba und Reza heute vor allem dankbar für das Leben in Schwerte und die Menschen, die sie hier aufgenommen haben. Der Arbeitskreis Asyl hat sich um sie gekümmert, als sie ankamen. Sie danken auch Simone Mansour vom Arbeitskreis Asyl und Frau Nobel sowie den Kollegen der Stadtwerke Schwerte. Auch sie haben sie immer unterstützt.