Abschiebung um Mitternacht: Beamte standen am Bett von Anisha (6)

Abschiebung

Ein Ehepaar wird mit seiner kleinen Tochter nach Bangladesch abgeschoben. Die Schwerter, die sie betreut haben, sind geschockt. Es gibt Zweifel, ob die nächtliche Abschiebung in der Form erlaubt war.

Kreis Unna, Schwerte

, 21.02.2022, 17:00 Uhr / Lesedauer: 4 min
Kinder aus dem ersten Schuljahr der Grundschule Villigst haben Briefe an ihre Freundin Anisha geschrieben. Die Sechsjährige ist mit ihren Eltern nach Bangladesch abgeschoben worden. Die Beamten der Ausländerbehörde kamen nachts.

Kinder aus dem ersten Schuljahr der Grundschule Villigst haben Briefe an ihre Freundin Anisha geschrieben. Die Sechsjährige ist mit ihren Eltern nach Bangladesch abgeschoben worden. Die Beamten der Ausländerbehörde kamen nachts. © privat

Es ist Mitternacht, als Beamte des Kreises Unna am 18. Januar mit einem Schlüsseldienst die Tür der kleinen Mietwohnung in Schwerte öffnen. Sie gehen ins Schlafzimmer. Dort liegen Navin S. (42) und seine Frau Mala (30) im Bett und schlafen. Auch die kleine Tochter Anisha (6) schläft tief und fest im Elternbett.

Mala S. wird zuerst wach – als der Strahl einer Taschenlampe auf ihr Gesicht fällt.

Sie ist erschrocken, denkt an Einbrecher. Dann hört sie die Stimme eines Dolmetschers auf Bengali: „Wecken Sie Ihren Mann und Ihre Tochter. Packen Sie Ihre Koffer. Sie werden abgeschoben, die Beamten bringen Sie zum Flughafen nach Hannover. Dort geht um 6 Uhr der Flieger nach Dhaka.“

Die Wohnung der Familie in Villigst steht leer. Eltern der Grundschule haben geholfen, die Möbel zu verkaufen. Das Geld haben sie der Familie nach Bangladesch geschickt.

Die Wohnung der Familie in Villigst steht leer. Eltern der Grundschule haben geholfen, die Möbel zu verkaufen. Das Geld haben sie der Familie nach Bangladesch geschickt. © Martina Niehaus

So beschreibt Mala S. am Freitag (18.2.), einen Monat später, ihre Abschiebung. Sie telefoniert aus der Wohnung ihrer Mutter in Bangladesch – rund siebeneinhalbtausend Kilometer von Schwerte entfernt.

Die Beamten nehmen den Eltern Geld und Handys weg – am Flughafen sollen sie sie zurückbekommen. Unter Schock packt die Familie ihre Koffer. „Meine Tochter wollte auch ihr Sparschwein einpacken, aber eine Beamtin hat es ihr abgenommen“, erzählt die Mutter über die Geschehnisse in der Nacht und wie sie abgelaufen sein sollen.

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Auf der Autofahrt zum Flughafen muss sich Anisha wegen der Aufregung übergeben. Die Eltern bitten darum, zu halten oder zumindest ein Fenster zu öffnen. „Doch das wurde nicht erlaubt.“ Die Sechsjährige erbricht sich auf die Kleidung ihrer Eltern.

Schwerter Arbeitskreis Asyl: „Unmenschliche“ Umstände

Hans-Bernd Marks (74) und Mechthild Uffmann (82) gehören zum Schwerter Arbeitskreis Asyl. „Wir betreuen 1200 Flüchtlinge“, erzählt Marks. Er kenne die Familie, die im Jahr 2016 nach Deutschland gekommen war und zuvor jahrelang in Italien gelebt hatte. „Sie sind sehr nett und umgänglich, in der evangelischen Kirchengemeinde waren sie beliebt und gut integriert“. Mechthild Uffmann ergänzt: „Frau S. wollte eine Ausbildung zur Altenpflegehelferin machen.“ Doch Mala S. durfte nicht arbeiten, weil sie nur geduldet war.

Hans-Bernd Marks und Mechthild Uffmann vom Arbeitskreis Asyl Schwerte stehen vor der Mietwohnung der Familie. Sie sagen: "Für das kleine Mädchen war das eine traumatische Erfahrung."

Hans-Bernd Marks und Mechthild Uffmann vom Arbeitskreis Asyl Schwerte stehen vor der Mietwohnung der Familie. Sie sagen: „Für das kleine Mädchen war das eine traumatische Erfahrung.“ © Martina Niehaus

Auch Marianne Versin-Wenzler vom Arbeitskreis Asyl kennt die Familie. „Mala hat ihren Deutschkurs mit Eins bestanden“, erzählt die 69-Jährige. Dass die Familie nur geduldet war, war allen Beteiligten klar. Doch Versin-Wenzler bezeichnet die nächtliche Abschiebung als „unmenschlich“.

Warum wurde die Familie nachts abgeschoben?

Was genau ist passiert? Der Kreis Unna bestätigt auf Anfrage, dass die Familie nachts abgeschoben wurde. Zur Begründung teilt ein Pressesprecher mit: „Eine Abschiebung nachts ist das letzte Mittel, das im Verfahren angewendet werden muss.“ Zuvor erfolge eine „mehrmalige Kontaktaufnahme mit der Erläuterung des Ausreiseablaufs“.

Marianne Versin-Wenzler sagt: "Die Umstände der Abschiebung waren unmenschlich."

Marianne Versin-Wenzler sagt: „Die Umstände der Abschiebung waren unmenschlich.“ © privat

Bis dahin hätten die Personen die Möglichkeit, freiwillig auszureisen. Auf die Flugzeiten habe die Ausländerbehörde keinen Einfluss. „Die Familien werden eng begleitet und wissen genau, was auf sie zukommt“, so der Pressesprecher.

Auf diese Aussagen reagiert Marianne Versin-Wenzler mit einem schnaubenden Lachen. „Das letzte Mittel? Das ist jetzt die dritte oder vierte Abschiebung in Schwerte, die nachts erfolgt ist“, sagt sie. Die Familie habe sich vor den Behörden nicht versteckt.

Mit Schlüsseldienst ins Schlafzimmer schleichen?

Und ganz abgesehen von der Uhrzeit beschäftigt die Beteiligten eine weitere Sache: „Das Eindringen mit einem Schlüsseldienst in eine Mietwohnung zwecks Abschiebung ist rechtswidrig“, sagt Sebastian Rose vom „Abschiebungsreporting NRW“, dem Komitee für Grundrechte und Demokratie mit Sitz in Köln. Es verstoße gegen den Artikel 13 des Grundgesetzes zur Unverletzlichkeit der Wohnung. „Das Grundgesetz und das Kindeswohl scheinen im Kreis Unna bei Abschiebungen nicht zu gelten.“

Das sieht der Kreis auf Anfrage anders: „Wohnungen werden grundsätzlich nur mit entsprechendem Beschluss geöffnet.“ Für den Schlüsseldienst gebe es eine rechtliche Grundlage – „zum Beispiel die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts in Form eines Durchsuchungsbeschlusses“.

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„Wir ziehen in Zweifel, dass es in diesem Fall so einen Beschluss gibt“, entgegnet Sebastian Rose unbeeindruckt. In Deutschland müsse das Kindeswohl Vorrang haben. „Und das wurde nicht berücksichtigt.“ Der Kreis habe „ohne jede Rechtsgrundlage“ gehandelt.

„Selbst bei Straftätern muss man vorher schellen“

Was Ansiha durchgemacht hat, bewegt auch die Anwältin der Familie. Sie sagt: „Das Amt wusste, dass sie es mit einem kleinen Kind zu tun haben.“ Die Flugzeit habe Wochen vorher festgestanden. „Dann kann ich die Familie doch kurz informieren, dass sie sich bereithalten sollen.“

Die Anwältin, die solche Verfahren seit 20 Jahren begleitet, sagt, eine solche Ankündigung sei durchaus gängig. So könne man packen, das Kind vorbereiten und eventuell etwas eher ins Bett bringen. „Doch in diesem Fall wurde ein Versteckspiel betrieben.“

Die Beamten kamen gegen Mitternacht, um die Familie nach Bangladesch abzuschieben. Zutritt zur Wohnung verschafften sie sich mit einem Schlüsseldienst.

Die Beamten kamen gegen Mitternacht, um die Familie nach Bangladesch abzuschieben. Zutritt zur Wohnung verschafften sie sich mit einem Schlüsseldienst. © Martina Niehaus

Empörend sei, dass niemand zumindest an die Tür geklopft oder sich bemerkbar gemacht habe. „Das ist schlicht verboten! Selbst bei Straftätern muss man vorher schellen“, sagt sie. „Man darf nicht heimlich in eine Wohnung hineinschleichen, als Beamter muss ich mich doch zu erkennen geben!“

Dolmetscher auf Facebook: „Es war wieder soweit“

Zu den genauen Umständen der nächtlichen Abschiebung äußert sich der Kreis aus „datenschutzrechtlichen Gründen“ nicht. Wer sich jedoch äußert, ist ein Mann, der an diesem Abend ebenfalls dabei war. Es ist Dolmetscher Shahabuddin Miah. Der 64-Jährige, der auch Kreistagsabgeordneter der Grünen in Soest ist, postet am 24. Januar auf Facebook: „Es war wieder soweit.“

Obwohl er den genauen Ort nicht nennt, erkennt man, welche Familie gemeint ist. „Als wir ankamen, schauten die Beamten sich zunächst die Lage um das Haus herum an und dann wurde die Wohnungstür vom Schlüsseldienst geöffnet. Als wir die Wohnung betraten, schliefen alle drei auf einem Bett zusammen.“ Miahs Aussagen passen zu dem, was Mala S. erzählt hat. Der Dolmetscher schreibt: „Ich hatte gedacht, sie sterben durch einen Herzanfall.“

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Erstklässler schreiben Briefe: „Ich famise dich ser“

Unter Schock stehen auch Kinder, Eltern und Lehrer der Grundschule Villigst. Dort ging Anisha in die „Eulenklasse“. Offenbar hatte es niemand vom Kreis für wichtig erachtet, zumindest die Schulleitung zu informieren. „Als die Kleine morgens nicht zur Schule kam, haben wir uns Sorgen gemacht“, erzählt Schulleiterin Bea Klein. Niemand ging ans Telefon. Erst mehrere Tage später kam ein Anruf von der Stadt Schwerte. „Wir waren völlig geschockt“, sagt Bea Klein. „Für uns war das ein Wegreißen aus dem Herzen. Und für das Kind ist das eine Vollkatastrophe.“

"Schade das du weggezogen bist", schreibt dieses Kind.

„Schade das du weggezogen bist“, schreibt dieses Kind. © privat

Die Mädchen und Jungen aus der Eulenklasse wissen nicht, dass Anisha abgeschoben wurde. Die Erwachsenen haben ihnen erzählt, die Kleine sei weggezogen. Die Kinder haben ihrer Freundin ein Päckchen geschickt, mit ihren Heften und Büchern. Sie haben Bilder gemalt. „Ich famise dich ser“, steht auf einem Bild mit einem Regenbogen.

Die Eule ist das Klassentier von Anishas Klasse.

Die Eule ist das Klassentier von Anishas Klasse. © privat

Anisha vermisst ihre Freundinnen und Freunde auch. Sie spielt allein auf dem Spielplatz. Mit anderen Kindern kann sie sich nicht unterhalten – sie spricht nur Deutsch. Auf Deutsch fragt sie auch, wann sie wieder nach Hause darf. Schon in der Nacht der Abschiebung hat sie gesagt: „Ich war doch in der Schule immer lieb. Warum hat mich die Polizei abgeholt?“

Darauf weiß ihre Mutter keine Antwort.

Um die Familie S. zu schützen, haben wir ihre Namen geändert. Auch die Anwältin möchte unerkannt bleiben. Als Vertreterin ausländischer Familien bekomme sie regelmäßig Morddrohungen.