
Richard Sühling hat mühsam eine spannende Episode in der Geschichte Raesfelds recherchiert. © Niklas Berkel
Keine Heizung, kein Warmwasser: Richard Sühling (85) über das Leben von 55 geflüchteten Kindern
Zweiter Weltkrieg
1943 sind 55 schulpflichtige, unbegleitete Kinder aus Essen-Dellwig nach Raesfeld und Erle gekommen. Richard Sühling (85) hat in mühsamer Recherche ihr Leben in dieser Zeit zurückverfolgt.
Das kleine Raesfeld als Schauplatz im Zweiten Weltkrieg? Nicht als entscheidender Kriegsort, aber entscheidend für 55 schulpflichtige Jungen und Mädchen. In einer laut Richard Sühling (85) „einzigartigen humanitären Aktion in Deutschland“ kamen sie 1943 – als die Bombardements in den großen Städten begannen – aus Essen-Dellwig nach Raesfeld. Hier und in Erle fanden sie Schutz, neue Familien und Freunde. Das Leben damals aber war hart.
Richard Sühling war lange Vorsitzender des Heimatvereins Raesfeld. Vor sechs Jahren gab er dieses Amt auf. Doch die Geschichte seiner Heimat fasziniert den 85-Jährigen weiterhin. Als er vor einigen Jahren auf das Schicksal der Kinder aufmerksam wurde, machte er sich direkt an die Arbeit.
Per Zufall kam Richard Sühling an ein wertvolles Dokument
Doch die Recherche war mühsam. „Wir hatten zu spät begonnen“, erklärt Sühling. Viele Zeitzeugen habe es nicht mehr gegeben. Doch allmählich bekamen er, seine Frau Margret sowie die Mitstreiter Maria Löchteken und Hannes Schulte Terhart die nötigen Informationen beisammen.
Das wertvollste Dokument: eine Liste mit allen Namen der Essener Kinder, den Namen des Pflege-Haushaltes, der Anschrift sowie den Berufen. „Eine Person in der Schulverwaltung hat die Liste erstellt“, sagt Sühling. Per Zufall sei sie ihm in die Hände gelangt.
Die Liste war im Nachlass des 2020 verstorbenen ehemaligen Heimatvereins-Vorsitzenden Adalbert Friedrich. Und so verfolgten Sühling und die anderen Forscher von Namen zu Namen und von Haushalt zu Haushalt die Geschichte der 55 Kinder.
Im Zweiten Weltkrieg organisierten die Nationalsozialisten zum Ende des Krieges eine Kinderverschickung. Komplette Schulen lagerten sie mitsamt Kindern und Lehrern aus, um sie außerhalb der Reichweite alliierter Bomber zu bringen. Mit diesen Kindern haben die 55 Dellwiger aber nichts zu tun.

Die Raesfelder Familie Sümpelmann nahm damals die Dellwigerin Wilhelmine Tissen (rechts) auf. Das Foto entstand im Jahr 1943. © Privat
„Es war eine in sich geschlossene humanitäre Aktion auf kirchlicher Ebene zwischen den Kirchengemeinden Essen-Dellwig und Raesfeld“, erklärt Sühling. „Sie war in ihrer Art einzigartig.“ Wie genau die „kleine Kinderverschickung“, wie der 85-Jährige sie nennt, in Dellwig ablief, wisse er nicht. „Immer wieder taucht aber eine Schwester Klara dort auf.“ Statt die Kinder weit wegzubringen, blieben sie in der Nähe ihrer Heimat – obwohl Raesfeld für damalige Verhältnisse weit weg von Essen war.
Die unerwartete Überraschung der Kinder: Wie in Essen gab es auch in Raesfeld fast jede Nacht Fliegeralarm. Doch schon bald lernten die Menschen, dass das Münsterland zwar Überfluggebiet, aber kein Angriffsziel der Alliierten war.
Mit der Bahn nach Rhade, auf Leiterwagen nach Raesfeld
Die Kinder kamen mit der Bahn von Essen-Dellwig nach Rhade. Vom Bahnhof brachten Bauern sie auf Leiterwagen zu ihren Pflegefamilien. Kein Kind war jünger als 6 Jahre, keines war älter als 14. Ihre Mütter und Väter ließen sie zuhause oder im Krieg. Nur Lehrerin Anna Wippler kam mit.
Für die Essen-Dellwiger Kinder wendete sich das Leben damals um 180 Grad. Plötzlich waren sie Fremde. Trotzdem schliefen sie mit den Kindern der Pflegefamilien in einem Bett, sie halfen im Haushalt und auf dem Feld.
„Man muss sich das mal vorstellen“, sagt Sühling: „Jetzt kommen die Kinder in ein Haus, wo kein Platz ist, wo Familien mit ihren eigenen Kindern wohnen. Auf einmal sitzen diese Fremden mit am Tisch, gehen mit zur Schule, teilen das Bett mit einem. Alles auf engstem Raum.“

Anna Wippler war Lehrerin in Essen-Dellwig. Sie kam mit den 55 Kindern nach Raesfeld. © Privat
Wohl in keiner der Raesfelder Pflegefamilien gab es ein leeres Zimmer. Überall herrschte drangvolle Enge. Denn neben den geflüchteten Kindern gab es in einigen Familien auch russische oder polnische Zwangsarbeiter. Die meisten Wohnungen hatten keine Heizung, keine elektrische Gasversorgung, kein warmes Wasser.
Vergleich mit ukrainischen Flüchtlingen
Der ehemalige Vorsitzende des Heimatvereins vergleicht die damalige Situation mit der der geflüchteten Menschen aus der Ukraine: „Flüchtlinge heute haben eigene Wohnungen, eigene Zimmer, essen alleine. Meistens kommt die Mutter mit den Kindern mit.“ Das Leben als Flüchtling – und derer, die sie aufnehmen – sei heute ein völlig anderes.
Was nicht bedeutet, dass die geflüchteten Kinder von damals das Leben in Raesfeld in schlechter Erinnerung behalten hätten. „Die Raesfelder und Erler behandelten die Kinder, als ob sie zur Familie gehören.“ Die Betroffenen, mit denen Sühling noch Kontakt aufnehmen konnte, haben das Leben in Raesfeld damals in positiver Erinnerung.

Drei Dellwiger Kinder, die heute noch leben und damals nach Raesfeld kamen. © Privat
Nach dem Weltkrieg ging es für sie aber wieder nach Hause. Mit ein Grund, warum diese Episode der Raesfelder Geschichte in Vergessenheit geriet. Richard Sühling und der Heimatverein Raesfeld wollen diese Episoden aufdecken. Und die Familien für ihre Bereitschaft, fremde, unbegleitete, schulpflichtige Kinder aufzunehmen, würdigen.
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