Ikenna Nwakchukwu wohnt in Zimmer 209, so steht es neben der Tür, und hinter dem acrylgläsernen Schild kleben zwei Karten: Auf der vorderen steht, auf Englisch, „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, die hintere zeigt die Allianz Arena, das Stadion von Bayern München. Die Tür zu seinem Zimmer steht offen. Er sitzt auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch, zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, in Jeans, schwarzem Reißverschluss-Pullover, „Priesterseminar Erfurt“, steht darauf. Neben ihm ein halbmeterhoher geschnitzter Jesus, an dessen hochgereckte Hand er eine Karte mit Kreuz gehängt hat. Es läuft Rap-Musik des Berliners Kontra-K.. Den Song, sagt Ikenna, „höre ich gegen die Zweifel. Als Bestärkung.“ Dann also, wenn er fürchtet, dass es doch alles zu viel wird, dass alles vielleicht doch zu groß ist. Die Sprache, die er seit gerade mal drei Jahren lernt. Das Leben fern der Heimat, die er seit drei Jahren nicht gesehen hat. Oder die Aussicht auf ein Leben ohne Sex, ohne Partnerschaft. „Das ist ein täglicher Kampf“, sagt Ikenna lächelnd. Wobei er, wenn schon ein Kämpfer, dann zumindest ein fröhlicher ist. Hat ja keiner gesagt, dass alles immer nur leicht wird.
Bundesweit 327 Priesteranwärter
Ikenna Nwakchukwu hat sich für etwas entschieden, das heute für junge Menschen noch weniger selbstverständlich wirkt, als es das vielleicht je war: Er wird Priester. Katholischer Priester. Im Jahr 2011 gab es noch 764 solcher Kandidaten in ganz Deutschland. Heute sind es noch 327. In Erfurt, wie schon zu DDR-Zeiten zentraler Ausbildungsstandort für die ostdeutschen Diözesen, sind es gerade mal fünf. Und so ist Ikenna Nwakchukwu, geboren vor 27 Jahren in der nigerianischen Hauptstadt Lagos, heute die Hoffnung des Bistums Erfurt. Wobei die Frage ist: Wer sind die, die sich diesen Weg heute noch zutrauen? Oder vielleicht eher: zumuten?

Ikenna Nwakchukwu wollte mal Fußballprofi werden – bis er nach seiner ersten katholischen Messe dachte: „Wow, das will ich auch machen.“ Sein erster Gottesdienst in Deutschland sei jedoch ein Kirchen-Kulturschock gewesen, sagt er. © Jacqueline Schulz
Jedenfalls waren auch Ikennas Pläne einmal andere. Fußballprofi wollte er werden. Er war neun, so erzählt er es, als ihn Freunde aus seiner Mannschaft mit in eine katholische Messe nahmen. „Ich sah das und dachte: Wow, das will ich auch machen“, sagt er. Heimlich schlich er sich dann in die Kirche, aus Angst, seine Eltern könnten nicht einverstanden sein. Sechs Jahre lang ging das so, bis sein Vater ihn dann zufällig bei einem Aschermittwochsgottesdienst als Messdiener entdeckten.
Dem Gefühl, seinen Glauben verbergen zu müssen, und der Angst, entdeckt zu werden, begegnet man bei Gesprächen mit Kandidaten heute häufiger. Bei Ikenna Nwakchukwu war sie unbegründet. Beim nächsten Mal kam seine ganze Familie, auch die Geschwister, in den Gottesdienst. Und als ein Vertreter des Bistums Ikenna, da schon Philosophiestudent in Nigeria, vor drei Jahren nach Erfurt einlud, da war sein Vater einverstanden.
In Thüringen noch gut sieben Prozent der Menschen katholisch
Nur dass die ersten Erlebnisse hier für Ikenna Nwakchukwu einen Kirchen-Kulturschock bedeuteten. Aus Lagos, der Metropole mit Millionen von Katholiken, war er Messen mit Tausenden Teilnehmern gewohnt. Große, bunte Feste. „Und als ich hier 2019 zu meinem ersten Gottesdienst in den Erfurter Dom kam“, erzählt er, „da saßen dann zehn ältere Frauen. Das war ein Schock für mich.“ Willkommen in der deutschen Diaspora. In einem weitgehend säkularen Landstrich. In Thüringen sind noch gut sieben Prozent der Menschen katholisch – und das ist schon doppelt so viel wie im ostdeutschen Schnitt.
Ob er selbst manchmal hadert mit der Kirche? Die sich so schwertut mit Veränderung? Von deren Vertretern immer neue Verfehlungen, oder eher Verbrechen ans Licht kommen? Er hadert. Er versteht nicht, wenn diejenigen, die Kirche erneuern wollen, abgekanzelt werden. „Wenn die Menschen Reformen wollen, zeigen sie doch ihre Liebe zur Kirche“, sagt Ikenna. Das Zölibat, die Ehelosigkeit, sollte keine Pflicht für Priester sein, sagt er. „Das gehörte zur Kirche ursprünglich auch nicht dazu.“
Nur fügt er sich am Ende eben auch, bei allem Hader. An der Wand seines Zimmers hängt ein Zettel mit den Dienstgraden der Bundeswehr. Gefreiter, Fähnrich, Oberst und so weiter. Ikenna würde gerne Militärseelsorger werden, es ist sein Traum. Aber er fühle sich seinem Bischof verpflichtet, sagt er – also werde er in eine Gemeinde gehen.
Zölibat: Ein täglicher Kampf
Und das Zölibat? „A daily struggle“, sagt er. Ein täglicher Kampf. „Darüber zu reden hilft“, sagt er. Die regelmäßigen Gesprächsrunden, die sie in der Ausbildung haben. Aber es bleibt eben ein Kampf. Mit sich selbst und den Anforderungen. Ikenna sagt, er halte sich an Regeln, die sie sich hier im Seminar gegeben hätten. Zum Beispiel lasse er, wenn er Besuch hat, immer die Tür offen. Um stets zu zeigen, dass hinter der Tür nichts Zweifelhaftes geschieht, wenn zum Beispiel eine Frau zu Gast ist. Was hier in Erfurt ja leicht mal passieren kann.
Hier, in der thüringischen Landeshauptstadt, sind die Katholiken der Zeit schon lange voraus. Die Zentralisierung der Priesterausbildung, zu der sich 14 Diözesen in Westdeutschland jetzt zusammenschließen, gibt es in Erfurt schon seit 70 Jahren. Und auch die Öffnung gegenüber der Welt, um die sie sich allmählich bemühen, haben sie hier schon vor einigen Jahren verwirklicht. Seitdem dürfen auch Männer mit im Priesterseminar wohnen, die gar nicht Priester werden wollen. Die vielleicht nicht mal Theologie studieren. Und sogar Frauen. 22 Personen leben hier nun. Platz gibt es ja genug. 200 bis 300 Priesteramtskandidaten zählte man früher. Man wolle kein beliebiges Wohnheim sein, sagt Regens Ansgar Pohlmann, der Leiter des Seminars. Aber für ein soziales Leben brauche es eben auch eine gewisse Größe. Fünf ist da zu wenig. Und schließlich gehe es auch ja auch darum, häufiger aus dem katholischen Milieu herauszuspringen. Sich nicht nur im eigenen Kreis zu bewegen.
Priesterseminar: Biografien sind bunter, brüchiger, internationaler geworden
Die, die kommen, sind ohnehin andere als früher. Der junge Mann, der nach der Schule gleich ins Priesterseminar kommt, ist selten geworden. Die Biografien sind bunter, brüchiger, internationaler. Außer Ikenna aus Nigeria ist Martin aus Argentinien hier. Oder Julian aus Pakistan. Und Martin aus Hessen.

Martin Hohmann (43) studierte Deutsch und Geschichte, wurde Lehrer – und will jetzt katholischer Priester werden. © Jacqueline Schulz
Martin Hohmann ist 43, der Älteste im Seminar. Aufgewachsen ist er als Protestant, sein Vater war Religionslehrer, aber im Grunde, so erzählt er es, war sein früheres evangelisches Leben wie eines in der falschen Form, im falschen Haus. Als Kind der Neunzigerjahre habe er sich in der postmodernen Beliebigkeit verloren gefühlt: „Mir fehlte der Halt, die Orientierung“, sagt er. Vielen sei es doch damals so gegangen.
Hohmann studierte Deutsch und Geschichte, wurde Lehrer – bis er merkte, dass sein pädagogischer Eifer begrenzt war. 2013 konvertierte er zum Katholizismus und begann bald darauf mit dem Theologie-Studium. Was seine Freunde damals sagten? Gewundert habe es niemanden. Eher schon wirkte es wie die Ankunft an einem lange angestrebten Ziel. Der Katholizismus habe ihn schon lange fasziniert, gerade die Bücher Joseph Ratzingers. Der emeritierte Papst also, der sich im Zuge der Diskussion um seine eigene Rolle nach dem Münchner Missbrauchsgutachten mit der Wahrheit so schwertat. Während zugleich klar wurde, wie wenig sich die Kirche der vielen Opfer angenommen hat. „Das hat mich natürlich sehr enttäuscht“, sagt Hohmann.
Zugleich jedoch lässt es ihn nicht grundsätzlich zweifeln. Er will keinen grundlegenden Umbruch. Er erkenne die „Plausibilität des Zölibats“, so formuliert er es. Nach Ostdeutschland sei er bewusst gegangen, eben weil sich hier die Zukunft der Kirche zeige. „Wir sind nicht mehr Volkskirche“, sagt er, sondern hier, deutlicher als anderswo, ein „Versuchslabor“. Vielleicht ist diese, so wirkt es, Illusionslosigkeit ein Vorrecht der Spätberufenen. Weil sie nicht mehr auf einen grundlegenden Wandel hoffen, der womöglich nie kommt. Aber was ist, wenn man diese Abgeklärtheit nicht hat, nicht haben kann?
Jesper Stahl ist 20 Jahre alt, er trägt einen schwarzen Hoodie, auf dem „Abios Amigo“ steht, es ist sein Schulabschiedspullover. Im Priesterseminar ist die Bar sein Lieblingsort, die „Pius X. Lounge“, auf seinem Nachttisch liegt ein Buch, „Mann werden, Mann sein“ heißt es. Er hat, daraus macht er kein Hehl, noch nie eine Freundin gehabt. Er kann nur ahnen, worauf er verzichten würde.
Schon als Jugendlicher fasziniert von der katholischen Kirche
Wenn Jesper Stahl die Geschichte von sich und der katholischen Kirche erzählt, dann ähnelt sie der einer heimlichen Liebe. Mit 14, zur Firmung, fährt er mit einer Gruppe ins Kloster Nütschau – und spürt eine schwer zu fassende Faszination. „Das Kloster hat mich danach nicht mehr losgelassen“, sagt er. „Da war immer eine Sehnsucht.“
Daheim in Stralsund, tiefste Diaspora, engagiert er sich immer stärker in der Gemeinde. Zeitweise hat er fünf Ämter gleichzeitig, er ist Oberministrant, Gruppenleiter, Chorsänger, Küster, Gruppenleiter in einer Person. Zugleich erzählt er in der Schule kaum jemandem davon. „Von 70 Leuten dort waren fünf Christen“, sagt er. Und von den fünf Christen war auch noch die Mehrheit protestantisch. Wenn man dann noch erzählte, dass man zu den Katholiken zählte, sei es noch schwieriger geworden. Also redete er nicht darüber. Blendete aus, was ihn begeisterte, als sei es ein Makel. „In der Schule war es schon hart.“
Freiwilliges Soziales Jahr im Kloster
Nach dem Abitur verbringt er ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kloster. Am liebsten würde er danach sogleich eintreten. „Aber dann hat mich der Prior gebremst.“ Seit einem Semester studiert er nun in Erfurt Theologie. Wohnt im Seminar. Und überlegt, nun auch Priester zu werden.
Die Gretchenfrage dieser Tage also: Ob es ihn nicht stört, was über die Kirche in den vergangenen Jahren bekannt wurde? Der massenhafte Missbrauch, die Vertuschungen, die Ignoranz gegenüber den Opfern? Jesper sagt, er wolle nichts schönreden. Über nichts hinwegsehen, nichts verharmlosen. Aber da sei eben, andererseits, die frohe Botschaft. „Sie ist doch das Zentrale.“ Das, worum sich alles dreht.

Jesper Stahl (20) will sich bald entscheiden, ob er Priester werden will: Es sei „auch eine schwere Entscheidung“, sagt er. © Jacqueline Schulz
Von den Bewerbern um das Priesteramt lehnt die Kirche ein Drittel bis die Hälfte ab. Von denen, die beginnen, beendet etwa die Hälfte die Ausbildung nicht, sagt Regens Pohlmann. Weil er und seine Kollegen die Kandidaten beobachten und ihnen dann doch abraten. Oder weil sie selbst aussteigen. Sich verlieben, heiraten, andere Wege gehen.
Jesper will sich bald entscheiden. Er müsste es, streng genommen, noch nicht. Aber er will es klären. Er neige dazu, es zu tun, so sagt er. „Aber es ist eben auch eine schwere Entscheidung.“ Irgendetwas jedenfalls, das ist der Stand an diesem Tag, lässt ihn vor diesem letzten, für ihn definitiven Schritt doch noch zögern.