"Wir brauchen jetzt europäische Antworten"
Schäuble im Interview
Trotz vieler Krisen in Europa glaubt Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) an europäische Lösungen. Andreas Herholz hat ihn interviewt und ihn zur Flüchtlingsthematik sowie dessen Finanzierung, zum Grenzschutz und innenpolitischen Dingen befragt.

«Wir müssen die Schengen-Außengrenzen jetzt sichern. Die Lösung dieser Probleme darf nicht an einer Begrenzung von Mitteln scheitern», sagte Wolfgang Schäuble. Foto: Olivier Hoslet
Flüchtlingsbewegungen, Terroranschläge, Euro-Krise, Ukraine-Krise - doch Europa scheint nicht die richtigen Antworten zu finden - ist es da kein Wunder, dass viele Menschen das Vertrauen in Europa und die Politik verlieren?
Wir erleben zweifellos eine Fülle von Krisen. Und es stimmt, Europa ist zur Zeit nicht in der besten Verfassung. Doch es hilft nichts: Wir brauchen jetzt europäische Antworten. Wer soll denn die Ursachen für die Flüchtlingsbewegungen bekämpfen? Das kann Europa nur solidarisch miteinander erreichen. Gemeinsam muss Europa auch dafür sorgen, dass sich die Lage in der Ukraine weiter stabilisiert. Die verschiedenen Krisen sind ein Weckruf für Europa. Wir arbeiten mit Hochdruck und nicht ohne Hoffnung daran, dass es gelingt. Wir sind auf dem Weg, auch wenn es ein wenig länger dauern mag.
Haben wir diese Zeit noch, oder wird Europa scheitern?
Wir müssen europäische Antworten geben. Niemandem ist damit gedient, wenn sich die Grenzen im Schengenraum schließen. Das würde uns zu allen bestehenden Krisen noch erhebliche wirtschaftliche Probleme bescheren, von den politischen ganz zu schweigen. Das ist keine Lösung. Wir müssen den Druck aufrechterhalten, damit wir schneller vorankommen und zu einer gemeinsamen europäischen Lösung in der Flüchtlingspolitik kommen. Wenn jetzt einige Mitgliedsländer zögern, machen wir es trotzdem, dann bilden wir eine Koalition der Willigen und gehen gemeinsam mit der Türkei voran. Die anderen werden nachziehen. Wir können nicht darauf warten, dass auch der letzte der 28 Mitgliedstaaten seine Blockadehaltung aufgibt.
Und wenn die Blockierer dennoch nicht einlenken?
Wir lassen uns bei der Lösung der Probleme nicht blockieren. Wir müssen die Vereinten Nationen und deren Flüchtlingsprogramm und die Nachbarstaaten der Krisenländer besser ausstatten. Die Flüchtlingslager der Vereinten Nationen im Libanon und in Jordanien müssen besser finanziell unterstützt werden, damit die Flüchtlinge dort solange unter menschenwürdigen Bedingungen leben können, bis ihre Rückkehr in ihre syrische Heimat möglich ist. Dann können sie dort das Land wieder aufbauen. Vor allem gilt es, die europäischen Außengrenzen besser zu sichern. Das wird den Druck auf Europa verringern. Wir bewegen uns langsam in die richtige Richtung.
Nicht nur die CSU fordert kurzfristig eine bessere Sicherung der deutschen Grenzen. Wäre das nicht zumindest eine Übergangslösung?
Die Bundesregierung macht seit Monaten von den Möglichkeiten des Schengen-Vertrages Gebrauch, Kontrollen an den Grenzen durchzuführen. Seit September des vergangenen Jahres hat sich die Lage verbessert. Es kommen heute deutlich weniger Flüchtlinge, und wir kehren allmählich zu geordneten Verhältnissen zurück. Seit wir auch mit den Stimmen von Rot-Grün die Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt haben, hat sich die Lage auch hier deutlich entspannt. Das hätten wir schon vor Jahren machen können. Bei der politischen Linken gibt es da eine lange Tradition der Realitätsverweigerung. Ich hoffe, dass die Grünen jetzt auch im Bundesrat zustimmen, wenn es darum geht, die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer einzustufen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Zuflucht nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Das heißt aber nicht, dass er frei wählen kann, wo er leben will. Wer schon in einem anderen sicheren Staat Schutz gefunden hat, braucht bei uns keinen Schutz mehr und muss dorthin zurückkehren.
Experten haben seit Jahren vor den Flüchtlingsbewegungen gewarnt…
Wir wussten, dass es vielen Menschen auf der Welt viel schlechter geht als uns. Uns war auch klar, dass sie wissen, wie man zu uns kommt. Jetzt haben sich viele auf den Weg gemacht. Unser Interesse muss jetzt sein, die Krisenregionen im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika zu stabilisieren, damit die Welt nicht noch mehr aus den Fugen gerät. Das ist unser Rendezvous mit der Globalisierung - ob uns diese Begegnung nun gefällt oder nicht. Davor können wir uns nicht im warmen Stübchen verstecken.
Was muss geschehen?
Wir werden unsere Ausgaben für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, für innere und äußere Sicherheit deutlich erhöhen. Die Verteidigungsausgaben müssen steigen, weil wir unser militärisches Engagement ausweiten müssen. Das werden zentrale Aufgaben der deutschen Politik, um die Wünsche der Menschen ernst zu nehmen, in Sicherheit leben zu können.
Woher soll das Geld dafür kommen? Wirtschaftsexperten rechnen allein mit etwa 50 Milliarden Euro Ausgaben für Unterbringung und Integration von Flüchtlingen. Drohen jetzt der Abschied von der „Schwarzen Null“ und die Rückkehr zur Neuverschuldung?
Wir wissen nicht, wie viele Flüchtlinge noch kommen. Wir werden tun, was notwendig ist. Die Aufgabe der Aufnahme und Integration der Flüchtlinge und ihre Finanzierung haben oberste Priorität. Da müssen sich andere Aufgaben ein Stück weit unterordnen. Wenn irgendwie möglich, wollen wir es ohne neue Schulden leisten. Noch können wir die „Schwarze Null“ halten. Das setzt allerdings voraus, dass wir strikte Ausgabendisziplin wahren. Wir können uns nicht mehr alles und jedes leisten. Das muss klar sein. Hier geht es nicht um Prinzipienreiterei. Hinter der „Schwarzen Null“ steht kein Dogma, sondern eine vernünftige Finanzpolitik, die den Menschen dient.
Die Regierung will den Wohnungsbau fördern. Wie sehen ihre Pläne aus?
Wir fördern nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern gezielt in den Ballungsgebieten, dort, wo wir dringend erschwingliche Mietwohnungen brauchen. Wir wollen keinen Luxus-Wohnungsbau. Dem trägt unser Gesetzentwurf Rechnung. Er geht jetzt in Bundestag und Bundesrat. Das ist ein kräftiger Anstoß für den Mietwohnungsbau.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat sich mit dem britischen Premier David Cameron auf ein von London gefordertes Reformprogramm verständigt. Werden die Briten jetzt noch für ihre Austritts-Drohungen belohnt?
EU-Ratspräsident Tusk setzt wie die Bundeskanzlerin sehr viel daran, dass Großbritannien keine Entscheidung trifft, die wir für falsch halten. Ein Austritt Großbritanniens wäre nach unserer Überzeugung nicht nur sehr nachteilig für die Briten, sondern ein schwerer Schlag für Europa. Wir versuchen, dies mit aller Kraft zu verhindern. Noch sind nicht alle Probleme ausgeräumt. Der Europäische Rat muss den Reformplänen erst zustimmen. Trotzdem müssen wir schon weiterdenken. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik müssen wir schneller vorankommen. Europa muss in der Welt mit einer Stimme sprechen und stärkere Fähigkeiten entwickeln. Eine gemeinsame europäische Armee wäre da ein großer und sinnvoller Schritt gerade in Zeiten terroristischer Bedrohung. Wenn man die Verteidigungsbudgets der EU-Staaten zusammenfasst, ließe sich damit die Verteidigungskraft Europas deutlich steigern. Von daher ist die Krise auch eine Chance.
Wäre die Aussetzung von Sozialleistungen für EU-Bürger generell ein sinnvoller Schritt?
Der äußerst unterschiedliche Lebensstandard in der Europäischen Union ist ein Problem. Wenn jemand aus Bulgarien in Deutschland einen Arbeitsplatz findet, bekommt er für seine Kinder mehr Kindergeld als das Durchschnittseinkommen in Bulgarien ausmacht. Das führt zu Spannungen. Das müssen wir lösen.
Sie fordern den Einsatz der Bundeswehr auch im Innern. Warum wollen Sie Soldaten als Hilfspolizisten einsetzen?
Die Kräfte der Polizei sind endlich. Wenn sie zur Bewältigung einer Sicherheitslage nicht ausreichen sollten, wäre es sinnvoll, die Streitkräfte in einer Hilfsfunktion der Polizei auch im Innern einzusetzen. Das machen alle anderen Länder, deshalb spricht einiges dafür, dass es nicht unvernünftig sein kann. Wir sollten dafür unsere Verfassung entsprechend ändern.
Ist Ihr Vorschlag, zur Finanzierung der Flüchtlingskrise europaweit die Benzinsteuer um zwei Cent zu erhöhen, ist erst einmal wieder vom Tisch?
Der Vorschlag zielte nicht vorrangig auf Deutschland. Es geht um eine europäische Lastenteilung. Inzwischen hat die Europäische Kommission den Vorschlag aufgegriffen. Europa muss mehr Mittel für die Bekämpfung der Ursachen der Flüchtlingskrise aufwenden. Das wird Geld kosten, viel Geld. Nicht alle haben einen finanziellen Handlungsspielraum, wie wir ihn haben. Da wäre eine höhere Benzinsteuer europaweit ein vernünftiger Schritt. Denn eines ist auch klar: Immer neue Schulden und die Aushöhlung des Stabilitätspakts sind nicht der richtige Weg.
Länder und Kommunen fordern deutlich mehr Geld für Unterbringung und Integration der Flüchtlinge. Wird der Bund hier mehr anbieten?
Die Integration ist unbestritten eine große gesamtstaatliche Aufgabe. Das bedeutet aber nicht, dass der Bund diese zu hundert Prozent allein übernimmt, auch wenn das vielleicht einige Ministerpräsidenten so sehen. Die Länder sind hier ebenfalls in der Pflicht. Zumal die Länder am guten Steueraufkommen so sehr teilhaben wie der Bund und die meisten Länderhaushalte inzwischen ausgeglichen sind. 2015 haben die Länder einen Überschuss von 2,8 Mrd. Euro erwirtschaftet.
Wie stehen die Chancen auf einen Durchbruch für eine Neuordnung des Länderfinanzausgleichs?
Wir müssen uns einigen. So weit liegen Bund und Länder gar nicht auseinander. Es macht keinen Sinn, die Verantwortung gegenseitig hin und herzuschieben. Ich werde die Verhandlungen aber weiter mit den Ministerpräsidenten führen und nicht mit Ihnen in einem Interview.
Helle Empörung über die Aussage von AfD-Chefin Frauke Petry, Flüchtlinge müssten notfalls mit Waffengewalt am illegalen Grenzübertritt gehindert werden. Wie bewerten Sie diese Äußerungen?
Wir hatten in Deutschland in dunklen Zeiten einen Schießbefehl. Dass wir jetzt darüber noch einmal eine Diskussion führen müssen, hätte ich nicht gedacht. Diese üblen Demagogen pöbeln erst rum und wollen es dann nicht gewesen sein. Sie sind aalglatt und appellieren an niedrige Instinkte. Die Methode ist nicht neu. Deshalb müssen wir diese Rattenfänger stellen, entlarven und die Menschen vor ihnen warnen. Sie bringen uns nur Elend. Ich kenne Frau Petry nicht, aber ich denke, dass sie noch Herrin ihrer Sinne ist. Was sie gesagt hat, ist grob falsch und gefährlich. Solche Demagogen zu wählen, denen die Unseriosität auf die Stirn geschrieben steht, hat Deutschland stets geschadet. Jeder kann etwas tun, wenn er seine Stimme den demokratischen Parteien gibt. Wer so offensichtlich an fremdenfeindliche Ressentiments appelliert und auf Flüchtlinge schießen will, bekämpft die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die AfD ist eine Schande für Deutschland.
Krise an den chinesischen Märkten, ein anhaltender Ölpreisverfall, weiter Probleme mit Griechenland - stehen wir am Vorabend einer neuen Weltwirtschaftskrise?
Das alles sind Risiken für die Stabilität des Weltwirtschafts- und Weltfinanzsystems, die man ernst nehmen muss. Hier gilt es rechtzeitig gegenzusteuern, um zu verhindern, dass wir so etwas erneut erleben. Wir müssen die Krisenanfälligkeit verringern und die Kapitalanforderungen erhöhen. Wir brauchen eine bessere Regulierung und bessere Aufsicht der Banken. Hier ist schon vieles erreicht worden, jetzt muss es auch umgesetzt werden. Vor allem dürfen wir uns aber von einzelnen schlechten Nachrichten nicht verrückt machen lassen. Wir bleiben weiter auf Kurs. Die wirtschaftlichen Aussichten für Deutschland in 2016 sind wahrlich nicht schlecht.
Thema Elektromobilität: Die Bundesregierung will Elektro-Automobile fördern. Warum sind Sie gegen eine Kaufprämie?
Ich bin ein Freund der Ordnungspolitik. Produkte müssen sich am Markt durchsetzen. Das ist die ureigene Aufgabe der Unternehmer. Wenn die Politik der Wirtschaft diese Aufgabe abnimmt, unterläuft das die Grundregeln der Marktwirtschaft. Deshalb halte ich von solchen Kaufprämien wenig.
Gerade noch war Bundeskanzlerin Angela Merkel vom US-Magazin „Time“ zur Person des Jahres gekürt worden. Jetzt wird in den Medien die Frage lauter, ob sie nicht die Richtige für das Amt ist. Schafft sie das?
Ja, natürlich schafft sie das. Das sind mediale Erregungswellen. Sie hat zwar in den Meinungsumfragen nicht mehr ganz so hohe Werte wie noch vor Monaten. Dennoch: Die allermeisten Regierungschefs westlicher Demokratien würden ihre eigenen Zustimmungswerte gerne mit denen von Frau Merkel tauschen. Im Augenblick erlebt die Kanzlerin eine schwierige Situation, steht unter erheblichem Druck. Das ändert aber nichts daran, dass sie eine sehr erfolgreiche Kanzlerin ist.
Ihre eigenen persönlichen Umfragewerte dagegen sind glänzend. Es gibt Spekulationen, Sie könnten im Fall der Fälle das Kanzleramt übernehmen. Schmeichelt Ihnen das, oder stört es Sie?
Ich weiß, wie solche Prozesse funktionieren. Deshalb bin ich dadurch ganz sicher nicht geschmeichelt. Das ist alles Unsinn, was da spekuliert wird. Ich lasse mich davon überhaupt nicht beeindrucken.
Aber Sie wollten 1998 schon einmal Kanzler werden…
Das wollte ich seit meiner Geburt… - Quatsch mit Sauce! Mich fasziniert das politische Engagement. Ich war immer loyal. Ich habe unter zwei Bundeskanzlern, Helmut Kohl und Angela Merkel, gedient. Und meine Loyalität zum Regierungschef war niemals in Frage gestellt. Darauf lege ich größten Wert. Ich bin kein Mensch, der in einer Regierung gegen den eigenen Regierungschef intrigiert. Das ist nicht meine Art. Ich muss hier nichts mehr beweisen.