Warum pflegende Angehörige aggressiv werden

Serie: Pflege im Fokus

Ein der Großteil der Pflegebedürftigen in Deutschland wird zu Hause gepflegt – oft liebe- und aufopferungsvoll. Doch in der Pflege kann es auch zu Frust, Wut und Aggression kommen. Ein Interview über harmlose Alltags-Situationen, die völlig eskalieren, und grausame Drohungen, die ein Schrei der Verzweiflung sind.

BERLIN

, 12.09.2016, 05:44 Uhr / Lesedauer: 4 min

„Pflege findet zum Großteil hinter verschlossenen Türen statt“, sagt Gabriele Tammen-Parr, Leiterin von „Pflege in Not“. Bis zu 2500 Anrufer melden sich jährlich in der Berliner Beratungsstelle. Viele von ihnen, weil sie überfordert sind, die Aggressivität zunimmt.

Nach welchen Situationen rufen die Menschen bei Ihnen an, wann brauchen sie Beistand?

Einer der ersten Anrufer war eine Frau, die sagte: „Ich habe gerade meine Mutter mit der Bürste geschlagen. Weil sie sich nicht kämmen lassen wollte, und wir müssen dringend zum Arzt.“ Das ist eine Situation, die viele beschreiben: Wenn sie unter Druck sind, wichtige Arzttermine anstehen, auf die man schon seit Wochen gewartet hat, und dann macht der Pflegebedürftige morgens nicht mit. Da kann es sein, dass jemand sehr harsch wird, die Hände gewaltsam gelöst werden, das Nachthemd ruppig über den Kopf gerissen wird. Viele schildern, in solchen Drucksituationen brennt die Luft.

Ist das ein typisches Beispiel: Gewalt in Form von Schlägen?

Bei Gewalt und Aggressionen denkt man oft an körperliche Gewalt. In der Pflege ist es aber so, dass die Pflegenden häufig Frauen sind – und die sind meistens im Bereich der psychischen Gewalt unterwegs. Sie schreien, sie drohen, sie machen Vorwürfe. Die gesamte Bandbreite reicht aber von verbalen Entgleisungen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen, das ist uns alles vertraut.

Gibt es Pflegende, die ihre Macht über den anderen ausnutzen?

Es gibt Menschen, die alte Rechnungen begleichen. Die sagen: „Nein, dein Feierabendbierchen bekommst du nicht mehr und deine Zigaretten teile ich ein.“ Die meisten Menschen fangen mit den besten Absichten an. Aber dann kommt irgendwann der Tag, wo sie an ihre Grenzen stoßen. Pflege bedeutet ja, dass man sich körperlich und emotional unheimlich nah kommt – näher, als man es sich manchmal wünscht.

Wie kann es so weit kommen, dass man einem Menschen gegenüber aggressiv wird, den man eigentlich liebt?

Ein Grund für Aggressionen ist die lange Pflegedauer. Das ist enorm viel eigene Lebenszeit, die dort einfließt. Viele derjenigen, die länger pflegen, sind körperlich und seelisch stark angegriffen. Viele nehmen Tabletten, Schlafmittel, trinken abends Alkohol, um überhaupt schlafen zu können. Viele haben einen gestörten Tag-Nacht-Rhythmus. Erst kürzlich hat eine Frau angerufen, die schilderte, ihr demenzkranker Mann weckt sie jede Nacht dreimal. Sie geht dann extra um halb acht ins Bett, um am Stück bis zwölf Uhr schlafen zu können, weil es danach vorbei ist mit der Nachtruhe.

 

Gibt es ein Grundmuster, das oft in Aggressionen ausufert?

Was häufig zu Konflikten führt, ist der Rollentausch: Wenn man Pflege übernimmt, muss man auch ein Stück weit die Führung übernehmen, Dinge bestimmen.

Zum Beispiel?

Es sind immer wieder Kinder, die anrufen: Die Eltern benötigen Pflege, lehnen Hilfe aber ab. Die Wohnung ist schon verwahrlost, sie können ihre Tabletten nicht nehmen, der Vater steht abends im Nachthemd im Treppenhaus, findet nicht zurück. Kinder sind dann in einem schweren Dilemma – wie viel Freiheit möchte ich meinen Eltern zugestehen: Dürfen sie im Nachthemd auf der Straße rumrennen?

Liegt der Grund für die Konflikte immer in der aktuellen Situation oder muss man weiter zurückschauen?

Der eigentlich Zündstoff für die Konflikte ist die Beziehungsgeschichte. Man pflegt jemanden, mit dem man eine lange Geschichte – als Kind oder Ehepartner – hat. Aus dieser Zeit gibt es ganz viele Kränkungen und Konflikte, Dinge, die nie besprochen oder verziehen wurden. Ein klassisches Beispiel: Die Tochter pflegt die Mutter, und hört nie ein liebes, dankbares Wort. Dann kommt der Bruder dreimal im Jahr von weiter weg angereist, und die Mutter bedankt sich überschwänglich, dass er kommt. Häufig stellt sich dann heraus, dass es alte Familienmuster gibt, wo ein Kind immer der geheime Liebling war.

Ist es für Ehepartner einfacher, sich zu pflegen, als für Eltern und Kinder?

Nein. Bei Ehepaaren ist die Situation oft besonders tragisch, wenn man eine Ehe mit gemeinsamer Zukunftsplanung hatte – man will in der Rente gemeinsam reisen, etwas erleben. Durch die Pflege kann es sein, dass sämtliche Pläne zerschlagen werden. Beispiel Schlaganfall: Da verlieren beide etwas – der eine einen unabhängigen Partner, der andere seine Vitalität.

Wie geht man damit um?

Man sollte in einem gemeinsamen Gespräch klären: Wie gehen wir mit dieser neuen Situation um, wie können wir die Ehequalität retten? Besonders bei Demenz ist es wichtig, sich über das Krankheitsbild zu informieren, alle Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen – das ist die eine Seite. Andererseits muss man für sich persönlich gucken, was ist mit meiner emotionalen Situation? Wie kann ich Grenzen setzen, wenn die Belastung zu hoch wird?

Wie ehrlich sind die Anrufer, bei der Frage, ob Belastungsgrenzen überschritten sind?

Sehr ehrlich. Es geht bis zur Aussage: „Warum stirbt er nicht endlich? Ich kann nicht mehr.“ Viele weinen. Wir versuchen im Telefonat zu vermitteln, dass es erlaubt ist, alles zu sagen und zu denken. Uns geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Unterstützung. Es geht darum, dass der Anrufer einen Weg findet, aggressive Situationen zu vermeiden.

 

Hört man in den Gesprächen auch Aussagen, die strafrechtlich relevant sind?

Der schlimmste Satz, den ich gehört habe, war: „Meine Tochter hat gesagt, sie will mich vom Balkon schmeißen.“ Ich habe die Tochter nach dem Gespräch mit der Mutter angerufen. Die Tochter war so verzweifelt: Sie hatte ihre Mutter in die eigene Zweizimmerwohnung aufgenommen. Sie selbst schlief seitdem im Wohnzimmer auf der Couch. Da war die räumliche Enge schon nach einigen Wochen so unerträglich. Da war dieser grausame Satz einfach ein Verzweiflungsschrei.

Schalten sie in Fällen wie diesem die Polizei ein?

Es gibt natürlich Situationen, wo wir die Polizei holen mussten. Aber selten – vielleicht viermal in 16 Jahren.

Gibt es auch die Gegenseite: die Gewalt der Pflegebedürftigen gegen die Pflegenden?

Ein ganz klares Ja! Häufig ist die Aggression keine Einbahnstraße. Auch Pflegebedürftige, hochbetagt und bettlägerig, sind in der Lage, eine Pflegebeziehung richtig schwer zu machen. Das können ewige Unzufriedenheit und Beschwerden sein, Nörgeln, Verweigerung von Dankbarkeit oder von Essen, wenn der andere stundenlang gekocht hat. Da gibt es viele Möglichkeiten – bis dass absichtlich eingekotet wird, wenn jemand zu spät kommt.

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Wenn ich feststelle, ich werde aggressiv – wie sollte ich reagieren?

Aggressionen sind wichtig, sind ein wichtiges Gefühl – so wie Freude und Trauer. Aggressionen sind gerade in der Pflege ein wichtiges Warnsignal, über die Situation nachzudenken. Viele sind über sich selbst erschrocken, wenn sie sich eingestehen und es auch aussprechen: „Ich denke nur noch hasserfüllt an ihn, obwohl er alt und pflegebedürftig ist – das darf doch gar nicht sein.“ Aber es ist ein erster wichtiger Schritt, dass man diese Gedanken äußert, weil sie deutlich machen, dass vielleicht eine Veränderung her muss.

Wenn der Pflegende die Aggression als Warnsignal für sich erkannt hat, wie kann eine Lösung dann aussehen, was raten Sie den Anrufern?

In hochaggressiven Situationen sollte man ganz bewusst aussteigen: Vielleicht in die Küche gehen und schreien, eine Tasse an die Wand werfen. Die langfristigen Lösungen sind individuell sehr verschieden: Manchmal kann es schon helfen, wenn ein anderer Angehöriger für Entlastung sorgt oder man andere Unterstützungsangebote annimmt. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung die beste Lösung für alle Beteiligten ist.

Das Beratungstelefon Pflege in Not ist Montag, Mittwoch und Freitag von 10 bis 12 Uhr und Dienstag von 14 bis 16 Uhr unter Tel. (030) 69 59 89 89 erreichbar.
Das Team besteht aus einer Sozialpädagogin, einer Psychologin, einer Krankenschwester, einem Krankenpfleger und Qualitätsmanager und qualifizierten Ehrenamtlichen, die betroffene Gepflegte, pflegende Angehörige, Pflegepersonal, Pflegeeinrichtungen, aber auch Freunde und Nachbarn, die Auffälliges bemerkt haben, beraten.