Misshandlungen als Ausdruck der hohen Belastung

Gewalttätige Pflegekräfte

Wie häufig kommt es in der Pflege zu Gewalt? Kriminologieprofessor Thomas Görgen hat Pflegepersonal ambulanter Dienste dazu befragt. Von "problematischem Verhalten" berichteten dabei viele. Warum werden ausgebildete Fachkräfte gewalttätig?

MÜNSTER

, 12.08.2016, 14:40 Uhr / Lesedauer: 2 min
Ein Grund für Aggressionen und Vernachlässigungen in der Pflege kann die Überbelastung der Fachkräfte sein.

Ein Grund für Aggressionen und Vernachlässigungen in der Pflege kann die Überbelastung der Fachkräfte sein.

Thomas Görgen, Professor für Kriminologie an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, hat sich intensiv mit Aggressionen in der Pflege beschäftigt - und tut sich trotzdem schwer damit, belastbare Zahlen zu nennen. Das liege zum einen daran, dass viele Vorfälle nicht angezeigt und daher in keiner Kriminalstatistik erfasst würden. "Außerdem können sich Pflegebedürftige manchmal nicht mehr äußern, können also nicht befragt werden."

Bei einer Befragung von 500 Pflegekräften ambulanter Dienste, die Görgen 2007 durchgeführt hat, berichteten jedoch knapp 40 Prozent von einem eigenen problematischen Verhalten gegenüber Pflegebedürftigen. "Das bedeutet aber nicht, dass 40 Prozent Gewalttäter sind. Dabei handelt es sich um sensible Menschen, die ihr eigenes Verhalten kritisch hinterfragen", so Görgen.

Vernachlässigung und körperliche Gewalt

21 Prozent der Befragten gaben an, jemanden angeschrien, bloßgestellt oder beleidigt zu haben. 19 Prozent nannten Formen der pflegerischen Vernachlässigung. Etwa 10 Prozent berichteten von Fällen körperlicher Gewalt. Wobei es dabei im Wesentlichen nicht um Schläge, Tritte oder ähnliches gegangen sei, sondern beschrieben wurde, man habe den Pflegebedürftigen "zu grob angefasst", sagt Görgen.

Michel Hille, Professor an der Hochschule Zittau/Görlitz, hat in einer nicht-repräsentativen Studie Altenpflegeschüler in ambulanten Diensten und stationären Einrichtungen zu der Thematik befragt: Etwa 15 Prozent von ihnen beobachteten demnach innerhalb eines Jahres mehr als zehn Mal Situationen wie Anbrüllen, Beleidigen, Fluchen oder Unterlassungen. Zynische und sarkastische Bemerkungen, die der Betroffene als beschämend erlebte, nahmen 60 Prozent der Befragten wahr. Die Hälfte der Altenpflegeschüler sprach von Fixierungsmaßnahmen, die unangemessen seien.

Bösartig, körperlich und vorsätzlich – diese Begriffe, die man im Allgemeinen mit Gewalteinwirkung verbindet, sind in Bezug auf die Pflege nicht ideal, so Görgen. "Bei Gewalt in der Pflege haben wir es manchmal nicht mit Dingen, die getan werden zu tun, sondern mit Dingen, die unterlassen werden. Misshandlung und Vernachlässigung trifft es eher."

Laut Hille kann jede Handlung oder Nicht-Handlung, die gegen den Willen des Menschen verstößt, Gewalt sein: "Das Alleinlassen eines Pflegebedürftigen oder das Vorenthalten von Versorgung ist genauso Gewalt wie der Zwang zum Essen."

Überforderung statt böser Absichten

Man dürfe jedoch nicht pauschal davon ausgehen, dass der Täter dem Opfer etwas Böses will, so Prof. Beate Blättner vom Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda. "Relativ häufig sind es Phänomene, die etwas mit Überforderung zu tun haben", sagt sie. In der stationären Pflege beispielsweise seien Pflegekräfte "überlastet in ihrer Tätigkeit, weil sie zu viel in zu kurzer Zeit erledigen sollen."

In der Praxis könne das bedeuten, dass eine Fachkraft die Nerven verliert, wenn ein Pflegebedürftiger permanent klingelt und sie sich auch um andere kümmern muss. "Dann kann es sein, dass das Bett von der Klingel weg geschoben wird – weil das Gefühl besteht, der Arbeit sonst nicht mehr nachkommen zu können. Wenn sich der Pflegebedürftige nicht bemerkbar machen und nicht alleine aufstehen kann, ist das Vernachlässigung und Freiheitsentzug."

Gebrechlichkeit als Tabuthema 

Michel Hille sieht eine weitere Ursache: "Pflegekräfte haben ein Problem damit einzugestehen, dass sie nicht mehr können, dass sie sich ekeln, dass sie ausrasten könnten." Dabei müsse es eigentlich normal sein, auch gelegentlich auszusprechen: Jetzt reicht es. "Dazu kommt es in der Pflegebranche aber kaum. Senioren, die aktiv und fit alt werden, sind anerkannt. Dass es auch Ältere gibt, die gebrechlich sind - und mit denen der Umgang sehr schwierig ist, wird tabuisiert."

Und die drei Pflegewissenschaftler betonen: Misshandlungen können auch eine Reaktion von Pflegekräften sein – wenn sie selbst Gewalt durch Pflegebedürftige erfahren.

Gewalt von Pflegebedürftigen gegen Pflegekräfte ist laut Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) keine Ausnahme. In einer BGW-Studie berichteten bis zu 86 Prozent der befragten Beschäftigten im Gesundheitswesen, dass sie innerhalb des vergangenen Jahres verbal attackiert wurden. Körperliche Gewalt wie Kneifen, Spucken oder Schlagen erlebten demnach bis zu 60 Prozent.