Ständiger Zeitdruck: Unterwegs mit dem Pflegedienst
Zuhause alt werden
Zuhause alt werden - diesen Wunsch haben die allermeisten Menschen. Eine Möglichkeit, diesen Wunsch wahr werden zu lassen, ist die Betreuung durch einen Ambulanten Pflegedienst. Wir haben eine Pflegekraft einen Tag begleitet: Wie werden Menschen zuhause versorgt und wo liegen im Arbeitsalltag die größten Probleme?
Anna Marx* schmiert sich ihr Butterbrot. Im Morgenmantel sitzt die 93-Jährige neben ihrem Mann am gedeckten Wohnzimmertisch. Doch dann muss das Frühstück warten: „Guten Morgen, ich bin’s“, ruft Katrin Piorunek aus dem Flur, um sich anzukündigen. Wie jeden Morgen um kurz nach acht – denn ohne die Hilfe der Altenpflegerin kann das Wittener Ehepaar nicht in den Tag starten.
Körperliche Gebrechen
„So, junge Frau, kommen Sie mal zu mir, wir müssen heute den Verband machen“, sagt Schwester Katrin (47), die für die Caritas in Witten arbeitet. Anna Marx hat einen künstlichen Darmausgang, darunter eine Wunde, die versorgt werden muss. Auch beim Anziehen benötigt sie Hilfe. „Das kommt alles im Alter, ohne dass man es will“, sagt die Seniorin – es klingt ein wenig resigniert. Die körperlichen Gebrechen machen dem Ehepaar zu schaffen, umso wichtiger ist für sie die Arbeit des Pflegedienstes: In den 18 Minuten, die Schwester Katrin Zeit für das Ehepaar hat, sagt Anna Marx mehrmals aufrichtig „Danke“ – denn nur durch die Unterstützung des Pflegedienstes kann das Ehepaar noch in der eigenen Wohnung leben.
Den Wunsch vom Altwerden im eigenen Zuhause haben die meisten Menschen: Von 2,6 Millionen Pflegebedürftigen wurden 2013 laut Pflegestatistik 71 Prozent zu Hause gepflegt, 29 Prozent stationär. 616.000 der Pflegebedürftigen waren dabei auf 12.700 ambulante Pflegedienste angewiesen. 19 Betroffene besucht Schwester Katrin täglich zwischen sechs und zwölf Uhr in Witten.
Im Bademantel öffnet Margarethe Bär* (80) Schwester Katrin die Tür. Vor einigen Monaten hat sich die Rentnerin bei einem Sturz im Bus die Schulter gebrochen. Seitdem kommt der Pflegedienst täglich. „Wir machen eine Ganzkörperwäsche. Dafür bleiben zwanzig Minuten Zeit“, sagt Schwester Katrin mit Blick auf die Uhr. Ab in das Badezimmer, unter die Dusche. „Zeitlich klappt das hier gut, weil Frau Bär rüstig ist und das Bad quasi Luxus ist“, so die Pflegerin. Luxus, das ist in diesem Fall ein relativ geräumiges Bad mit ebenerdiger Dusche. Der Regelfall sieht anders aus: Enge Badezimmer aus den 70er-Jahren, 90-Jährige, die mithilfe der Pflegekraft in eine Badewanne kraxeln müssen. „Da sind 20 Minuten sehr knapp. Wenn ich mir eins wünschen könnte, wäre es Zeit, einfach mehr Zeit“, sagt Schwester Katrin.
Für jede Tätigkeit hat die Altenpflegerin Zeitvorgaben. Eine Insulinspritze geben? Zwei Minuten. Den Rücken waschen und Augentropfen geben? Acht Minuten. Frühstück machen und Tabletten geben? Sieben Minuten.
Wirtschaftliche Gründe sorgen für Zeitdruck
Diese Vorgaben des Arbeitgebers haben wirtschaftliche Gründe: Die Pflegedienste verhandeln mit den Kranken- und Pflegekassen die Sätze, die sie für eine Tätigkeit abrechnen können. Für eine Ganzkörperwäsche sind das etwa 20 Euro. Diese Zahl setzt der Pflegedienst in Bezug zu dem Stundensatz, in den neben den Personalkosten auch andere Betriebskosten einfließen. „Mal angenommen, man kann für eine Leistung 20 Euro abrechnen und man geht von einem kalkulatorischen Stundenlohn von 45 Euro aus. Dann wird der Pflegedienst diese Zahlen ins Verhältnis setzen und seinem Mitarbeiter sagen, du hast dafür 20 Minuten Zeit“, sagt Christoph Treiß, Geschäftsführer des Landesverbandes freie ambulante Krankenpflege.
„Zeit ist das große Problem in der ambulanten Pflege. Diese Zeiten müssen wir errechnen, um kostendeckend arbeiten zu können“, sagt Andreas Waning, als Fachbereichsleiter bei der Caritas Witten der Vorgesetzte von Katrin Piorunek. „Ich bin sicher, Schwester Katrin wendet für manche Aufgaben Freizeit auf.“
Pflegedokumentationen bedeuten hohen Aufwand
Ewald Kratzmann* döst noch vor sich hin, als die Pflegerin seinen Katheterbeutel leert. Trotzdem spricht sie laut mit ihrem bettlägerigen Patienten. „Haben sie das Dortmund-Spiel gesehen? Soll ja spannend gewesen sein.“ Langsam wird der 83-Jährige munter. Um ihn zu rasieren, hilft ihm die Pflegekraft beim Aufrichten. Der Mann wiegt 80 Kilo. Als er am Bettrand sitzt, fasst sich Schwester Katrin an den Rücken.
Körperlich zehrt der Job sehr – doch schlimmer ist für Schwester Katrin ein anderer Punkt ihrer Arbeit: Nachdem Ewald Kratzmann rasiert und mit neuer Windel wieder im Bett liegt, klappt sie im Wohnzimmer eine rote Mappe auf: die Pflegedokumentation. „Das Mappen-Schreiben ist immer fürchterlich“, sagt die Altenpflegerin – weil diese Arbeit viel Zeit kostet.
Für jeden Patienten gibt es eine solche Dokumentation. Von der Biografie des Pflegebedürftigen über das Sturzrisiko, Medikamente, bis zu den Tätigkeiten, die der Pflegedienst leistet, ist hier alles vermerkt. Die Aufzeichnungen sollen dazu beitragen, dass die Mitarbeiter des Pflegedienstes über jeden Patienten informiert sind. Aber auch für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen ist die Dokumentation wichtig: Er überprüft, ob die Pflegedienste gute Arbeit leisten. Dabei wird auch die Pflegedokumentation kontrolliert. Diese jährliche Kontrolle ist wichtig, das streitet Schwester Katrin nicht ab. Am Umfang der Dokumentation hat sie aber Zweifel.
Gesundheitsministerium reagiert mit Entbürokratisierung
Eine Klage, die Uwe Brucker vom Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Essen bereits oft gehört hat: „Das Bundesministerium für Gesundheit wurde immer wieder mit dieser Klage konfrontiert: Vor lauter Schreiben komme man nicht mehr zum Pflegen.“ Darauf habe das Ministerium 2013 mit der Entwicklung eines Projekts zur Entbürokratisierung in der Pflege reagiert. Pflegedienste sollten freiwillig teilnehmen können: „Überbordende Bürokratie und sinnentleertes Kästchenankreuzen“ wolle man damit abschaffen, sagte der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, als diese Entbürokratisierung der Pflegedokumentation im Januar 2015 startete.
„Die Dienste, die ihren Betrieb bereits auf dieses neue Dokumentationsmodell umgestellt haben, berichten von deutlichen Arbeitsentlastungen“, so Brucker. Anfang September waren bundesweit 4700 Pflegedienste, also etwa 38 Prozent, beim Projektbüro für die Einführung des neuen Modells registriert.
Betreuung spielt immer größere Rolle
Zwei Scheiben Toast, belegt mit Camembert und einer Streichwurst, dazu ein Radieschen und eine Tasse Kaffee – Schwester Katrin bereitet das Frühstück für Walter Balzick* zu. Bevor er essen kann, muss er allerdings noch die Tabletten nehmen, die die Pflegekraft ihm in einem kleinen Plastikbecher anreicht. Zwischendurch bleibt Zeit für eine kleine Unterhaltung: „Hattest du Besuch am Wochenende?“, will Schwester Katrin wissen, weil noch viel benutztes Geschirr in der Küche steht. „Deine Jacke muss mal gewaschen werden, die sieht nicht mehr gut aus“, kommentiert sie die dreckige Sweatjacke. Viel Zeit bleibt ihr nicht, aber in der Zeit, in der sie da ist, versucht sich die Pflegerin um möglichst viel zu kümmern. „Für viele bin ich der einzige Mensch, der täglich mit ihnen spricht.“
Die soziale Komponente kann ein Pflegedienst nicht abdecken: „Der Pflegedienst ist in allererster Linie für die medizinische und pflegerische Versorgung zuständig und weniger Sozialarbeiter“, sagt Christoph Treiß. Letztlich bestimme das Budget den Zeitplan. Seit etwa drei Jahren würden die Pflegedienste aber mehr Betreuung leisten, „weil sich die Pflegeversicherung auch in diese Richtung entwickelt hat“, so Treiß. Dem stimmt Andreas Waning von der Caritas zu: „Ich glaube, wir sind durch die Neudefinierung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf einem guten Weg.“ Dieser sieht ab 2017 fünf statt zuvor drei Pflegestufen vor und berücksichtigt die Bedürfnisse von Demenzkranken stärker.
Nicht bis zur Rente als Pflegekraft
Einen sehr zufriedenen Eindruck macht Luise Walz*, während sie in ihrer Badewanne sitzt, und Schwester Katrin sie abbraust. Zweimal wöchentlich ist diese bei der 84-Jährigen, um sie zu duschen. Das Bad ist recht eng, das Hineinklettern in die Badewanne anstrengend. Trotzdem haben die beiden Frauen gute Laune, es wird viel gelacht. „Kommen Sie mal ruhig bis an mein Lebensende – aber ich muss sie warnen, ich werde mindestens 100“, sagt Luise Walz und lacht. Sie möchte nie wieder auf die Unterstützung durch den Pflegedienst verzichten. „Das sind ja noch 16 Jahre. Ganz ehrlich? Ich hoffe, dass ich dann nicht mehr als Pflegekraft arbeite“, sagt Schwester Katrin.
Ihr Examen als Altenpflegerin hat die Wittenerin 1986 gemacht, seitdem arbeitet sie in diesem Beruf. Als Teilzeitkraft arbeitet sie zwölf Tage am Stück, hat dann zwei Tage frei. Jedes zweite Wochenende muss sie arbeiten, auf Feiertage wird keine Rücksicht genommen. „Ich bin jetzt 47 – früher hat mich diese Belastung nicht gestört, aber mittlerweile bin ich oft platt. Ich mache den Job super gerne. Ich betreue viele nette Leute, oft ist es so, als würde man zur Familie gehören. Viele freuen sich auf meinen Besuch. Das gleicht vieles aus“, sagt sie.
Und doch fällt die Antwort auf die Frage, ob sie sich noch mal für diesen Beruf entscheiden würde, eindeutig aus: „So wie es jetzt ist, mit diesem ständigen Zeitdruck, würde ich mich nicht wieder so entscheiden.“
*Namen von der Redaktion geändert