Schwitzend in die erste Liga
Das neue Borchert-Theater
Das neue Wolfgang-Borchert-Theater wird grandios. Aber es ist auch noch grandios unfertig. Die Theatermachen luden zum Baustellen-Rundgang - drei Tage vor der Premiere.

Chefdramaturgin Tanja Weidner und Intendant Meinhard Zanger im neuen, noch unfertigen Zuschauerraum.
Scharen von Arbeitern laufen über die Baustelle des Flechtheimspeichers. Der behelfsmäßige Eingang liegt in den ersten Wochen auf der provisorisch geteerten Hafenseite, der Parkettboden im Foyer ist zurzeit noch mit silbernem Schutzmaterial abgeklebt. Das schicke neue Kassenhäuschen ist leer, aber immerhin hängt ein großes verhülltes Ding neben dem Eingang: „Oh nein, sagt Tanja Weidner, „noch ein Heizkörper! Ich weiß wirklich nicht, wo ich hier Bilder aufhängen soll.“
Doch auch mit wenigen Bildern wird das Foyer ein behaglicher Raum sein. Die alten Eisensäulen und die Holzbalkendecke verbreiten rustikale Gemütlichkeit. Die Toiletten stammen von Designer Dieter Sieger, der gestern persönlich die Baustelle besuchte. Der Platz für die Bar steht schon fest. Und vor einer ochsenblutroten Wand wird eine Bühne für Lesungen und kleine Stücke aufgestellt – ein Ersatz für das „Magazintheater“ im alten Borchert. In den ersten Wochen wird ein Caterer für Essen und Getränke sorgen. Ab Dezember soll ein fester Pächter das Foyer in ein ständiges Bistro verwandeln. Also alles bestens in der neuen Eingangshalle – aber der große „Wow-Effekt“ kommt erst beim Betreten des Theatersaals. Tanja Weidner hat vor dem Haus fünfmal den Begriff „Quantensprung“ gebraucht, und sie hat Recht. Mit den vorherigen Borchert-Theatern – im Bahnhof und am Hafenplatz – verband man immer niedrige Zimmer mit mäßiger Klimatisierung und Bühnen, unter deren Schweinwerfern die Schauspieler gebrutzelt wurden. Jetzt nicht mehr.
Der neue Saal wirkt eher wie ein kleiner Bruder des Stadttheaters. 6,80 Meter hoch ragt das Bühnenportal in den zweigeschossigen Raum. Unter den Scheinwerfern bleibt für die Schauspieler nun 4,50 Meter Platz. Kulissen können nicht ganz nach oben gezogen werden, weil das Theater kein Bühnenhaus besitzt – aber es seien genug Züge vorhanden, um Requisiten zum Schweben zu bringen, sagt Tanja Weidner. Die 146 Sitzplätze (vorher: 100) steigen in zehn Reihen in ein zwei Meter hohes Parkett hinauf. Bisher stehen nur ein paar Holzlehnen, aber heute sollen die roten Polster geliefert werden – auf den genauen Rot-Ton wollte sich Intendant Meinhard Zanger gestern noch nicht festlegen. Auch nicht auf die Lampen im Zuschauerraum, denn die gibt es noch nicht. Bei der Premiere werden Scheinwerfer aufgestellt. Die drei Fenster zum Hafen an der Rückseite des Saals werden demnächst mit Jalousien verdunkelt, die hinter dem Parkett von unten nach oben rollen. Bei aller Unfertigkeit haftet dem schwarz-rotbraunen Saal schon jetzt nichts Provisorisches mehr an. Er könnte auch die Studiobühne der Bayerischen Staatsoper sein. Die anarchische, wilde Ausstrahlung des alten „Zimmertheaters“ ist nach sechs Jahrzehnten vorbei. Wenn Zanger und sein Team sie bewahren wollen, muss das in der Kunst geschehen. Baulich ist das Borchert mit diesem Entwurf von Architekt Jörg Preckel in die piekfeine erste Liga aufgestiegen.
Davon werden auch die Schauspieler profitieren. Sie können sich in großzügigen weißen Garderoben umkleiden und auf einer Probebühne im Keller alles minutiös einstudieren. Der Keller, der während des Unwetters vollgelaufen war, wirkte gestern getrocknet. Dennoch konnte das Ensemble bisher noch keinen der Räume in Besitz nehmen, die Eröffnungspremiere ist wie ein Blind Date mit dem neuen Haus. Meinhard Zanger steht in der noch spiegelfreien Garderobe auf dem staubigen Boden und sagt: „Der Raum ist doch fertig!“ Und wann ist das gesamte Borchert-Theater fertig? „Am Samstag.“ Dann stürzt er sich in den Trubel. Nein, die Sorge war verfrüht: Der anarchische Geist ist lebendig wie immer. Und keine ochsenblutrote Wand hält ihn auf.