„Man hinkt dem alten Bild des Alterns nach“

Interview mit Expertin

Alt sein in Deutschland – ist das schön oder eher eine traurige Angelegenheit? Wie macht sich Deutschland im internationalen Vergleich? Was muss sich ändern? Darüber haben wir mit Dr. Almut Satrapa-Schill, Vorstandsmitglied des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), gesprochen.

DORTMUND

, 12.09.2016, 05:44 Uhr / Lesedauer: 6 min

Alt sein in Deutschland – ist das schön oder eher eine traurige Angelegenheit?

Satrapa-Schill: Das hängt von so vielem ab: Von welchem Bildungsgrad gehe ich aus, bin ich krank, habe ich Familie, in welcher Region oder welchem Stadtteil lebe ich, bin ich dement, bin ich arm? Oder geistig behindert – das ist eine ganz neue Zielgruppe. Dieser Personenkreis hat inzwischen eine viel höhere Lebenserwartung als in früheren Zeiten. Oder Sie werden mit einem anderen kulturellen Hintergrund alt – das ist jetzt schon ein großes Thema und wird es noch viel stärker werden. Alt ist nicht gleich alt. Das Leben im Alter ist sehr differenziert zu betrachten. Es ist sehr bunt.  

Das ist die individuelle Ebene. Wie sieht es mit der gesellschaftlichen Situation aus?

Das Thema Alter und Altern hat noch nicht den Stellenwert. Es wird zu undifferenziert besprochen. Wir haben noch nicht im Kopf, dass eine Differenzierung bezüglich der Altersstufen stattfinden muss – Hochaltrigkeit ist etwas anderes als das Alter zwischen 65 und 80, in dem man über Potenzial verfügt. Das wird nicht richtig zur Kenntnis genommen. Obwohl Alter ein Thema ist, das uns alle angeht, setzt man sich ungern damit auseinander.  

Altern ist für viele Menschen mit Defiziten verbunden …

Man hinkt diesem alten Bild des Alterns nach. Aber es hat sich verändert. Das Altwerden verschiebt sich in gewisser Weise nach hinten. Es macht schließlich einen Unterschied, dass Sie mittlerweile im Vergleich zu den 60er-Jahren im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre älter werden. Ich sehe das positiv.  

Aber es gibt nunmal auch diskriminierende Tatbestände …

Es gibt in erheblicher Weise diskriminierende Tatbestände: Es gibt Altersgrenzen, wenn Sie ein Darlehen brauchen oder bei Versicherungen – die stimmen einfach nicht mehr aufgrund der höheren Lebenserwartung. Alt sein wird mit Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt. Das ist nicht richtig. Selbst Hundertjährige sind in der Lage, selbstständig in ihrem Haushalt zu leben.

Was muss sich ändern?

Wir brauchen andere Bilder und eine andere Sprache. Der alte Mensch wird als bedürftig und gebrechlich dargestellt. Dabei nehmen wir nicht zur Kenntnis, dass Führungspositionen, beispielsweise in der Politik, mit „alten“ Menschen besetzt sind. Und die sind überhaupt nicht gebrechlich und verfügen über eine hohe Kompetenz.  

Wie macht sich Deutschland im internationalen Vergleich?

Ich glaube, trotz alledem ist es doch so, dass man keine Angst zu haben braucht, in Deutschland alt zu werden. Wir sind sehr gut aufgestellt und mit unserem Sozialsystem europaweit trotz Problemen an der Spitze. Man muss auch sagen: Alter wird in anderen Ländern oft auch unterschiedlich betrachtet. In Afrika beispielsweise gelten Alte als Weise – diese Bedeutung hat das Alter bei uns nicht mehr. In Südamerika dagegen versucht man, sich mit chirurgischer Hilfe so lange wie möglich jung zu erhalten.

Wie selbstbestimmt lässt es sich denn in Deutschland leben – gibt es hinreichend Angebote und Dienste?

Es ist nicht unbedingt alles schon zum Guten bestellt, aber wir haben eine große Varianz des Angebots – von betreutem Wohnen über Tagespflege und ambulanter Pflege über stationäre Altenpflegeheime bis hin zu Wohngemeinschaften. Die finanziellen Ressourcen des Einzelnen spielen natürlich eine Rolle. Es macht einen Unterschied, wenn Sie ein Altenpflegeheim wählen, in dem es me hr Bildungsangebote und eine besondere Tagesstrukturierung gibt, was in der Regel teurer ist als ein normales Altenpflegeheim.

Es gibt also Qualitätsunterschiede bei den stationären Einrichtungen …

Die gibt es. Aber auch bei den ganz normalen Heimen gibt es sehr gute Heime. Das hängt von den Mitarbeitern und der Heimleitung ab. Aber wenn Sie wirklich etwas ganz Exklusives mit entsprechenden Angeboten wollen, dann müssten Sie privates Geld einsetzen.  

Muss man denn befürchten, bei Armut grundsätzlich schlechter versorgt zu sein?

Nein, auf keinen Fall. Die Heime unterliegen ja auch einer Prüfung durch die Heimaufsicht und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Zusätzlich steigen die Ansprüche an Qualität – auch seitens der Patienten. Man darf den Machtfaktor Patient nicht vergessen. Natürlich gibt es Ausnahmen: Pflegefehler oder medizinische Fehler müssen aufgegriffen und bearbeitet werden. Aber man kann in der Regel unserem System vertrauen – auch bei Altersarmut.

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Wo bestehen dennoch Lücken in der Versorgung?

Das Wohnen im Alter muss stärker in den Fokus gerückt werden. Es ist eindeutig so, dass alte Menschen die Häuslichkeit vorziehen – auch wenn sie pflegebedürftig oder krank sind. Das bedeutet, dass altersgerechtes Wohnen im Privaten schon früh beim Bau eines Eigenheims in die Planungen einbezogen werden muss. Und auch das quartiersbezogene Wohnen gilt es zu fördern.  

Was ist das für ein Modell?

Ein generationenübergreifendes Modell, das auch auf Nachbarschaftshilfe abzielt – so, wie man sich früher eine Dorfgemeinschaft vorgestellt hat oder auch einen gut vernetzten Stadtbezirk. Dort gibt es soziale Teilhabe, zivilgesellschaftliches Engagement, bei Pflegebedürftigkeit gäbe es eine entsprechende Sozialstation. Man muss in solchen Gemeinschaften denken, wo man sich gegenseitig helfen wird.  

Als Familienersatz?

Die Familie gibt es ja zum Teil nicht mehr, weil es generell weniger Familien gibt oder weil die Familie dorthin zieht, wo es einen Arbeitsplatz gibt. Das ist ein großes Problem im ländlichen Raum.  

Ambulant vor stationär: Das Pflegestärkungsgesetz II will die ambulante Versorgung stärken. Reichen die staatlichen Bemühungen aus?

Es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Denn es ist ganz klar: Jeder Einzelne von uns will so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben. Dabei geht es nicht unbedingt immer und nur um Pflege. Es hat oftmals damit zu tun, dass der alte Mensch Service und Assistenz braucht. Hilfe, mobil zu sein, einzukaufen, mit Technik klarzukommen. Dazu braucht es Betreuungskräfte und die sind in diesem Gesetz auch klar benannt.  

Und Pflegebedürftigkeit wird neu definiert – ab 2017 werden auch demenzkranke Menschen in die neuen Pflegestufen einbezogen …

Das ist ein Durchbruch, dass ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff in diesem Gesetz aufgegriffen wird. Man hat Jahre darum gekämpft, dass nicht nur der physischen, sondern auch der psychischen und seelischen Pflege Bedeutung zukommt. Die psychische Dimension der Pflege wird endlich erkannt. Man kann sich das noch umfangreicher vorstellen, aber der richtige Schritt ist grundsätzlich getan. Für die Betreuung Demenzkranker dürfen jetzt höhere Kosten anfallen, weil man feststellt, dass es eine ganz andere und viel intensivere Pflege bedeutet, die mehr Zeit braucht.  

Ist das Thema Demenz damit aus der Tabuzone befördert?

Nein, es gibt immer noch die Tabuzone. Die Krankheit macht Angst. Es geht um eine Krankheit, in deren Verlauf man zunehmend merkt, dass man das eigene Ich nicht mehr im Griff hat. Und am Ende kann ich nicht selber für mich bestimmen – das macht uns allen Angst. Aber man kann in dem prozesshaften Krankheitsverlauf noch viel an gesellschaftlicher Teilhabe erleben. Ich kann zu Konzerten gehen, zu Mitgliederversammlungen beim Sportverein gehen – das ist die Frage, inwiefern ich hier noch miteinbezogen werde.  

Wie gut sind die Deutschen auf den demografischen Wandel, die „Überalterung“ der Gesellschaft eingestellt?

Wir sind mit Sicherheit recht spät dran. Es sind bereits sehr tief greifende Entwicklungen zu beobachten. Wir werden nicht nur sehr viel älter, sondern es werden auch immer mehr sehr viel älter. Gleichzeitig werden immer weniger Menschen geboren. Es wird ein großes Ungleichgewicht geben. Und wir werden erhebliche Wanderbewegungen von Nord nach Süd oder von Ost nach West haben. Die Versorgungsstrukturen sind sehr unterschiedlich. Das weiß man aber schon lange und reagiert erst jetzt. Möglicherweise ist die Politik mit der Komplexität der Herausforderungen überfordert.  

Muss unser Pflegesystem nicht angesichts so vieler alter Menschen kollabieren?

Ich denke, man muss davon ausgehen, dass die Lebensarbeitszeit sich verlängert. Es gibt mit Sicherheit Berufe, wo das schwierig ist. Aber es gibt viele Berufe, in denen man länger arbeiten kann. Wir wissen im Übrigen auch, dass längeres Arbeiten eine gesundheitliche Prävention darstellt. Und viele Menschen würden gern länger arbeiten. Zudem wird die Gesellschaft nicht auf die Kompetenz, die Potenziale, die Erfahrungen und die Innovationskraft älterer Menschen verzichten können. Da müssen wir komplett umdenken. Das ist auch deshalb wichtig, weil es die Rente in der Höhe, wie wir sie jetzt haben, in Zukunft nicht mehr geben wird. Auch die prekären Arbeitsverhältnisse, die wir jetzt haben, werden in Zukunft voll durchschlagen.  

Wie wird die Qualität der Pflege künftig aussehen?

Die Qualität der Pflege wird steigen. Wir haben auf Hochschulniveau qualifizierte Pflegekräfte. Was wir aber nicht haben, ist eine finanziell gut ausgestattete Forschung, die unsere Versorgungsstruktur unter die Lupe nimmt. Oder pflegerische Methoden betrachtet. Hier liegt eine Möglichkeit der Qualitäts- und vielleicht sogar Effizienzsteigerung. Es ist noch nicht alles ausgereift. Wir brauchen aber nicht nur gleich qualifizierte Pflegekräfte, sondern ebenfalls einen Personalmix. Wir brauchen Experten in der Pflege, aber auch Berufe mit einem nicht ganz so hohen Niveau.  

Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie?

Wir werden in Zukunft noch einen weiteren Akteur in der Gesundheits- und Pflegeversorgung haben und das ist die Kommune. Sie wird eine Rolle einnehmen müssen, weil die Situationen vor Ort eben so unterschiedlich sind und weil die Kommune weiß, was gebraucht wird. Außerdem ist sie ja auch auf die Bürger angewiesen, denn die Gesundheits- und Pflegeversorgung wird ohne Bürger und ohne deren Engagement auch nicht mehr zu erledigen sein. Die Kommune wird im Zuge der Daseinsvorsorge eine viel größere Rolle in der Gesundheitsversorgung und in der Kranken- und Altenpflege übernehmen müssen.  

Welche Rolle spielt die Bundesregierung?

Es braucht eine bundeseinheitliche Gesetzgebung und Länderregelungen. Aber darunter hat die Kommune einen verhältnismäßig großen Spielraum schon jetzt, um diese Themen aufzugreifen. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe wird sich daher auch verstärkt mit diesem Thema beschäftigen und Kommunen in der Altenpflege beraten. Das KDA muss auch dafür sorgen, Kommunen instand zu setzen, sich überhaupt diesem Thema anzunehmen. Viele haben das noch gar nicht auf dem Schirm. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe muss zur Bewusstseinsbildung und Qualifizierung verhelfen.

Dr. Almut Satrapa-Schill ist 67 Jahre alt. Für das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) engagiert sich Almut Satrapa-Schill seit rund fünf Jahren, seit 2013 als Mitglied im Vorstand. Das KDA entwickelt Lösungskonzepte und Modelle für die Arbeit mit älteren Menschen und hilft, diese in der Praxis umzusetzen. Das KDA trägt durch Projekte, Beratung, Fortbildungen, Tagungen und Veröffentlichungen ganz wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen bei.