Kliniken in der Corona-Krise: Leben retten und Kasse machen
Gesundheitssystem
Eine Oberärztin schildert, wie Corona in ihrem Alltag gewütet hat: Pfleger und Medizinerinnen seien schon vor der Pandemie erschöpft gewesen, sagt sie, aber jetzt sei eine Grenze überschritten.

Die Intensivstationen sind inzwischen weniger stark belegt. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Die Oberärztin, wir nennen sie Renate A., überlegt nicht lange, als ihr Vorgesetzter diese Frage zu Leben und Tod stellt.
Dass Menschen auf der Intensivstation sterben, gehört zu ihrem Alltag. Jetzt aber geht es nicht um die Patienten, jetzt geht es um das Personal. Um sie selbst.
Die erste Corona-Welle ist gerade über Deutschland hereingebrochen, Kanzlerin Angela Merkel hält erstmals im Fernsehen eine Rede an die Nation und mahnt: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“
Neue Intensivstationen
Hier in der von einer westdeutschen Aktiengesellschaft betriebenen Klinik in einem ostdeutschen Bundesland nehmen sie die Lage sehr ernst. Es soll zusätzlich zu der bereits bestehenden Intensivstation eine Corona-Intensivstation aufgebaut werden. Der Mediziner sei deutlich geworden. Wer sich dafür melde, müsse wissen: „Vielleicht überleben wir das selber nicht.“
Renate A. geht im Kopf die Kolleginnen und Kollegen durch. Die eine ist eine junge Mutter, der andere hat Übergewicht und damit eine Vorbelastung, wieder andere sind vielleicht noch zu unerfahren für einen solchen Stresstest. Sich selbst zählt sie zu denen, die es am ehesten riskieren können: Die Kinder sind groß, die Finanzen geregelt, die Medizin ist ihre Profession. Sie sagt: „Ich bin dabei.“
Die Frau ist nichts lieber als Ärztin. Notärztin auch. Menschen retten - ein Sinn des Lebens. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie schon Schlimmstes gesehen hat. Dass Corona aber alles übertreffen würde, was sie bis dahin in ihrem Beruf erlebt hat, hätte sie vor 14 Monaten nicht für möglich gehalten. Und das liegt nicht nur an den Toten. Noch viel schlimmer zu ertragen ist „das Geschäft mit den Patienten“, wie sie es formuliert.
Mit ihrem wahren Namen möchte sie sich nicht zitieren lassen. Sie fürchtet, dass sie ihre Anstellung verlieren könnte. Sie will ihrer Klinik auch gar nicht schaden, es soll sich nur endlich etwas ändern. Irgendwie. Die wahren Verantwortlichen sitzen nach ihren Worten nicht vor Ort, sondern in der Konzernzentrale.
Sie weiß, dass sie ihre Situation nicht verallgemeinern kann, aber es ist nicht die erste Klinik, in der sie dieses Gewinnstreben erlebt, das bis zum Krankenbett durchschlage. Sei es durch fehlendes Personal, Einsparungen bei Medikamenten und schlicht schlechtes Essen. Ein krankes Krankenhaus.
In der Krise Kasse machen
Renate A. hat die Ausbreitung von Corona für Krankenhäuser als Krise verstanden, weil doch ohnehin schon alles knapp gewesen sei. Die Geschäftsführung habe das auch getan, allerdings sei deren Conclusio eine andere gewesen: In der Krise Kasse machen. Im Rückblick hält sie sich für naiv. „Ich dachte damals, dass wir gemeinsam, als Team, als Gesellschaft diese fürchterliche Pandemie in den Griff bekommen wollen.“
Heute mit dem langsamen Abflauen der dritten Corona-Welle, sagt sie über die Lage vieler Pflegekräfte und Ärzte: „Während wir schwer traumatisiert auf die vielen nach Luft schnappenden, verkabelten, beatmeten und schließlich einsam sterbenden Menschen zurückblicken und das unglaubliche Leid der Angehörigen mit in unserem Herzen tragen, versucht der Konzern mit Corona die Gewinnmaximierung voranzutreiben.“
Die zweite Intensivstation sei aufgebaut worden ohne zusätzliches Personal. Dabei müssen Corona-Patienten mit den vielen Schläuchen mehrfach am Tag von erfahrenen Pflegern und Ärzten gedreht werden. Am Anfang habe sie gedacht, da kämen noch Fachkräfte dazu.
Doch die Corona-Patienten wurden mehr, ihre Retter nicht. „Mir wurde klar: Das ist überhaupt nicht geplant.“ Die Rechnung sei gewesen: „Corona-Station aufbauen, dafür Geld vom Staat bekommen und durch geschickte Bettenkapazitätenplanung weitere Prämien abgreifen.“
Freihaltepauschalen für Kliniken
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte für die Anfangszeit der Pandemie von März bis September 2020 veranlasst, dass es pro neu aufgestelltem Intensivbett unbürokratisch 50.000 Euro und für jedes für Covid-Patienten reservierte Bett eine „Freihaltepauschale“ von 760 Euro pro Tag gibt.
Nach aktuellen Angaben seines Ministeriums zahlte der Bund vom 16. März bis zum 30. September rund 686 Millionen Euro für die Schaffung zusätzlicher intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten.
Einnahmeausfälle, die Krankenhäusern im selben Zeitraum entstanden sind, weil sie Aufnahmen, Operationen oder Eingriffe ausgesetzt oder verschoben haben, wurden mit knapp neun Milliarden Euro ausgeglichen. Für Einnahmeausfälle der Krankenhäuser vom 18. November 2020 bis zum 03. Mai 2021 wurden laut Bundesamt für Soziale Sicherung rund 4,7 Milliarden Euro ausgezahlt.
Der Konzern, für den Renate A. arbeitet, hat ein paar Dutzend Kliniken in der ganzen Republik. In ihrem Krankenhaus läuft es menschlich gut, sagt sie. Aber der Druck, möglichst hohe Gewinne zu machen, sei auch bis hierhin zu spüren. Sie selbst will aber bleiben und helfen, die Klinik mit anderen von innen zu verändern.
Die Gefahr, dass sie das nicht erlebt, weil sie vorher an Corona stirbt, ist gebannt, hofft sie. Ihre Corona-Impfung zumindest hat sie längst bekommen. Dafür bestehe nun die Gefahr, dass sie sich totarbeite: „Nach über einem Jahr Corona-Pandemie sind unsere Kraftreserven in gefährlichem Ausmaß ausgeschöpft. Psychisch und körperlich.“
24-Stunden-Schichten mit Dienst auf der Intensivstation, Notarzteinsätzen und Übergabe-Protokollanfertigung sind für Renate A. der Normalfall. Ihr Bereitschaftsdienst ist mangels Personal inzwischen immer eine volle Schicht, einen Freizeitausgleich bekommt sie dafür nicht.
Dazu ein aufwendig und penibles Hygienekonzept mit dem Wechsel des Dreifach-Corona-Schutzanzugs, den Handschuhen, der Haube und Brille - sowie der ständigen Angst, Corona mit nach Hause zu nehmen.
Einsparungen beim Personal
Worunter sie aber mehr leidet: unter Einsparungen bei Personal und Material. Die Pflegedienstleitung habe erklärt, Patienten müssten nicht täglich gewaschen werden. Zu wenig Zeit. Die vorsorgliche Auslegung von Medikamenten für Komplikationen bei Operationen werde reduziert. Zu teuer. Denn das Medikament werde oft nicht benötigt und müsse dann entsorgt werden.
Im Fall der Fälle müsse die Spritze nun spontan aufgezogen werden. Das dauere ein paar Sekunden. „So schnell stirbt es sich nicht“, sagt Renate A., „aber es erhöht den Stress der Ärzte.“ Spritzen würden billiger eingekauft, ließen sich aber nicht mehr so gut aufziehen. „Am Ende müssen die Zahlen der Geschäftsführung stimmen.“
Ihre Bitte um Anonymität führt dazu, dass der Konzern mit den konkreten Schilderungen nicht konfrontiert werden kann. Bekannte Mediziner schimpfen im vertraulichen Gespräch ebenfalls über Gewinnorientierung gerade in privatwirtschaftlich betriebenen Kliniken. Rund 37 Prozent der Kliniken sind in privater, 35 Prozent in gemeinnütziger beziehungsweise kirchlicher und 28 Prozent in öffentlicher Trägerschaft. Öffentlich äußern möchte sich aber keiner der Gesprächspartner.
Einer von ihnen sagt, Geschäftsführer und Chefärzte würden angehalten, Erlöse zu steigern. Wenn sie das nicht schafften, sei die Karriere schnell beendet. Leidtragende seien häufig Patienten, weil an ihnen gespart werde, wenn maximale Gewinnerlöse nicht erbracht würden.
Pfleger und Ärzte gingen in die Knie. Für einen Teil der Intensivbetten fehlten die Pflegekräfte, die generell weiterhin viel zu schlecht bezahlt würden. In der Altenpflege sei die Vorsorge jetzt schon desaströs. Das werde Deutschland in absehbarer Zeit in die Bredouille bringen.
Offen spricht hingegen der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. Er sagt dem RND: „Der Vorwurf, die Krankenhäuser hätten ein finanzielles Interesse an Personal und am Patienten zu sparen, geht ins Leere. Grundsätzlich bekommen die Kliniken über das Pflegebudget die Personalkosten pro Pflegekraft am Bett.
Es lässt sich keine Rendite erzielen, wenn man auf Pflegekräfte verzichtet, weil man die Ausgaben für die Pflege getrennt nachweisen muss und auch nur die tatsächlichen Kosten erstattet werden.“ Aber er betont auch: „Wir bräuchten bundesweit rund 40.000 zusätzliche Pflegekräfte.“
„Jetzt sind wir am Ende“
Der Intensivmediziner Uwe Janssens hatte im Dezember gesagt, die Zahl der Pflegekräfte in der Intensivmedizin sei schon seit langem zu gering. Und: „Das ist nicht ohne Grenze. Irgendwann kommt der Punkt, wo sie auch leider Gottes zusammenbrechen werden.“
Renate A. sagt: „Bei uns tun sie es jetzt.“ Sie versteht die Bundesregierung nicht: „Sie weiß doch, dass Pfleger und Ärzte schon vor Corona am Stock gingen. Jetzt sind wir am Ende. Wir sind leer. Wir brauchen Hilfe.“
Ein paar Wochen sind seit diesem Gespräch vergangen. Die Lage habe sich verschlimmert, sagt sie jetzt. Zunehmend meldeten sich auch erfahrene Pflegekräfte krank. Ob sie eine Corona-Prämie bekommen haben von ihrem Konzern? Natürlich nicht, sagt sie.
Renate A. würde gern lachen, aber ihr laufen die Tränen. Ihr Körper schmerzt, die Seele auch, ein harter 24-Stundendienst ist gerade zu Ende gegangen. Arbeit im Minutentakt, ein Patient ist in der Nacht gestorben, eine Pflegekraft hat einen Weinkrampf bekommen, der ganze normale Wahnsinn eben.
RND
Der Artikel "Kliniken in der Corona-Krise: Leben retten und Kasse machen" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.