Klimawandel, Hochwasser und Deiche: Steht Norddeutschland bald komplett unter Wasser?
Klimawandel
Mit dem Klimawandel steigt das Risiko für Überschwemmungen und Sturmfluten. Damit Norddeutschland bald nicht überflutet, müssen die Deiche möglichst schnell erhöht und stabiler gebaut werden.

Ein Mann watet mit Gummistiefeln durch das Wasser der über die Ufer getretenen Pinnau. Noch sind viele Felder und Wiesen überschwemmt und nicht alle Straßen wieder trocken. Hochwasser-Situationen könnten durch den Klimawandel öfter auftreten. © picture alliance/dpa
Der Deich, der die Bewohner und Bewohnerinnen der Bremer Neustadt vor Hochwasser schützen soll, erfüllt gerade noch so seinen Zweck. Bei extremen Sturmfluten sind am linken Weserufer Wasserstände bis zu 7,85 Meter tragbar. „Wenn der Pegel mit dem Klimawandel weiter nach oben klettert, reicht das aber nicht mehr“, sagt Michael Dierks. Eine Höhe von 8,70 Metern brauche der Deich. Stabiler müsse er auch werden, um nach 2050 noch dem Wasser standzuhalten.
Seit 1962 wurde dieser Bremer Deichabschnitt links der Weser nicht mehr verändert. Der Geschäftsführer des örtlichen Deichverbands zeigt kopfschüttelnd auf eine grasbewachsene Böschung, die bis hinunter an das Weserufers ragt. Auf dem Deich thronen majestätische Platanen, auf einem nicht asphaltierten Gehweg daneben schlendern Fußgänger, auch ein paar Radfahrer sind unterwegs. Und hinter dem Deich beginnt direkt die Stadt – mit einer gepflasterten Straße, parkenden Autos vor Wohnhäusern, einem Café, einem Bürokomplex.
So würde man heute nicht mehr bauen
So würde man das heutzutage nicht mehr bauen, ist sich Dierks sicher. Der Deich sei nicht nur viel zu steil angelegt, sondern bestehe größtenteils aus Sand und Bauschutt. „Solche Baustoffe würden wir heutzutage niemals verwenden, weil sie wasserdurchlässig sind.“ Und die Bäume, zwar hübsch im Stadtbild anzusehen, seien nach neuen Küstenschutz-Richtlinien und wegen beengter Platzverhältnisse eigentlich gar nicht mehr zulässig. Grünes Deckwerk, Rasen, höchstens ein paar Schafe – das gehöre eigentlich auf den Deich. Und als Sediment brauche es Kleiboden.
Seit 2010 überlegen Verband und Stadtverwaltung, wie der Deich der Zukunft hier aussehen könnte. Technisch sei das eigentlich in rund fünf Jahren zu bewerkstelligen, sagt Dierks. Der Umbau steht aber auch nach zwölf Jahren noch aus. Unter anderem, weil sich eine Bürgerinitiative gegen das Abholzen der Platanen stemmt. An einem Runden Tisch ringen die Baubehörde und die Bürgerinitiative auch im März 2022 noch um einen Konsens, auch ein Volksentscheid steht im Raum. Wann Dierks inzwischen mit dem Baustart rechne? Schulterzucken.
Deiche und Klimawandel: Nicht mit dem Umbau warten
Doch den Städten und Kommunen in Küstennähe bleibt nicht mehr allzu viel Zeit für die Anpassung. Die Folgen des Klimawandels führen zukünftig zu immer mehr Problemen, hält der Weltklimarat (IPCC) in seinem Ende Februar veröffentlichten Sachstandsbericht fest. Modellierungen zeigen, dass Starkregen, Sturmfluten und Überschwemmungen deutlich intensiver werden und häufiger vorkommen, wenn das 1,5-Grad-Ziel überschritten wird. Der Anstieg des Meeresspiegels stelle spätestens nach 2100 „eine existenzielle Bedrohung“ für Küstengemeinden dar, so das Urteil der internationalen Forschungsgemeinde.
Bis dahin mit dem Ausbau der Deiche zu warten, wäre aber fatal. „Die Gesellschaft muss sich schon jetzt entscheiden, ob und wie das geschehen soll“, sagt Peter Fröhle, Professor für Wasserbau an der Technischen Universität Hamburg. „Schon 2022 muss man Anpassungen zumindest konzeptionell angehen, um auch in Zukunft sicher zu
Allein in Niedersachsen gibt es mehr als 1000 Kilometer Deichlinie an der Küste. Fröhle zufolge ist es „ein immenser Aufwand“, alle Deiche zu erhöhen und zu verstärken. Auch Bremen mit seinen rund 530.000 Einwohnern und Einwohnerinnen ist davon nicht ausgenommen. 86 Prozent der Stadt sind durch Hochwasser gefährdet. Deshalb bleibt dem Deichverband in Zusammenarbeit mit den Städteplanern und ‑planerinnen gar nichts anderes übrig, als rund 52 Kilometer Deich zu erhöhen, zu verstärken und zu stabilisieren. Das besagt der Generalplan Küstenschutz, für den in Niedersachsen und Bremen alle Deiche im Jahr 2007 auf künftige Klimaszenarien überprüft wurden.
Welche Gebiete sind von Hochwasser bedroht?
Eine Alternative gibt es nicht. „In den Küstenbereichen gibt es viele Regionen, die schon längst überflutet wären, wenn es keine Deiche gäbe“, macht Diana Rechid vom Climate Service Center (Gerics) in Hamburg deutlich. Bis Mitte des Jahrhunderts sei man da noch sehr sicher aufgestellt. „Man sollte sich aber bewusst sein: Wenn man in so einem Gebiet lebt und der Meeresspiegel steigt, muss man immer genau beobachten: Ist dieser Deich in seiner Stabilität ausreichend, um das Wasser abzuhalten?“, erklärt die Klimaforscherin. Wie stark genau wann der Meeresspiegel ansteigt, wie häufig und wie stark es zu Sturmfluten und Hochwasser in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kommt – da gebe es allerdings noch viele Unsicherheiten, auch bei den Modellierungen von möglichen Szenarien.

Der Fischmarkt mit der Fischauktionshalle ist am Morgen während einer Sturmflut beim Hochwasser der Elbe überschwemmt. © picture alliance/dpa
Die Karte der US-Organisation Climate Central zeigt beispielsweise, welche Flächen an der Nordsee bei einem pessimistischen Szenario zum Klimawandel bis in das Jahr 2100 überflutet sein könnten. Die Forschenden haben mithilfe von Topographie‑ und Populationsdaten die Folgen des Meeresspiegelanstiegs unter anderem auch für diese Region untersucht. Aber: Angepasste Schutzmaßnahmen wie Deiche spielen bei dieser Modellierung noch keine Rolle.
2100 kann man sicher an der Küste leben – nur zu welchem Preis?
Klar ist aber bei solchen Szenarien: Die Deiche werden immer weiter in die Höhe wachsen müssen. „Bei ungebremstem Klimawandel kommt aber irgendwann wahrscheinlich der Punkt, an dem es viel zu teuer wird, diese Deiche aufrechtzuerhalten“, gibt Klimawissenschaftlerin Rechid zu Bedenken. „Dann ist es dort nicht mehr möglich, dort zu leben – sodass die Menschen von der Küste ins Landesinnere umsiedeln müssen.“
Wasserbauexperte Fröhle ist da etwas optimistischer. „Es gibt technische Lösungen, damit wir auch 2100 und 2150 noch sicher in Küstengebieten in Norddeutschland leben können“, sagt er, gibt aber ebenfalls zu Bedenken: „Alle Lösungen sind teuer und langwierig in der Umsetzung.“ Außerdem werden Deiche die Kommunen nicht nur eine Menge Geld kosten, sondern vor allem auch Fläche. „Erhöht man einen Deich um nur einen Meter, dann verbreitert sich der Querschnitt an der Basis des Deichs an der Küste zumeist um weit mehr als zehn Meter“, erklärt Fröhle.
Wächst der Deich einen Meter in die Höhe, wächst er sieben in die Breite
Für Bremens Stadtgebiet gilt Dierks zufolge: Für jeden Meter höheren Deich braucht es sieben Meter in der Breite. Auch das führe zu Nutzungskonflikten, weil gerade in der Stadt gleichzeitig um Wohnraum, Geschäftsgebäude, Parkplätze, Rad- und Fußwege und Grünflächen konkurriert wird. Kopfzerbrechen bereitet ihm zudem, dass die Folgen des Klimawandels nicht exakt berechenbar sind. Werden die Klimamodellierungen aus der Wissenschaft aktualisiert, wirkt sich das direkt auf die Bauvorhaben seines Deichverbands aus. Und so endet die Arbeit eigentlich nie.
Immerhin an neun Standorten links der Weser habe man beispielsweise schon die Deiche auf Stand gebracht und gemäß Küstenschutzplan um einen halben Meter erhöht. „Jetzt ist der Plan von 2007 aber eigentlich schon wieder überholt“, berichtet der Geschäftsführer. „Die Deiche müssen nun noch mal an vielen Stellen um einen Meter erhöht werden.“ Dabei plane und baue man Deiche eigentlich für rund 100 Jahre.
Einmal bauen und Jahrzehnte lang Ruhe haben: Damit könnte angesichts der möglichen Zukunftsszenarien nun Schluss sein. „Es kommt jetzt wirklich auf die nächsten paar Jahre an“, betont Klimaforscherin Diana Rechid. „Viele denken, der Klimawandel ist ein Problem der Zukunft, das einen jetzt noch nicht betrifft.“ Forschende sind sich aber einig: Genau jetzt und sehr schnell braucht es überall riesige Umstellungen, um sich dem Klimawandel anzupassen und gleichzeitig die Emissionen auf null zu bekommen. Sonst werden die Überschwemmungen irgendwann Schäden anrichten, die überhaupt nicht mehr zu kontrollieren sind.
Der Artikel "Klimawandel, Hochwasser und Deiche: Steht Norddeutschland bald komplett unter Wasser?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.