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Was passiert beim Abwurf einer Atombombe – und wie (un)wahrscheinlich ist ein Atomkrieg?
Krieg gegen die Ukraine
Ein Angriffskrieg eines europäischen Landes auf eines seiner Nachbarländer? Schien seit Ende des zweiten Weltkriegs unmöglich. Jetzt ist er Realität. Und mit ihm die Gefahr eines Atomkriegs.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine zieht unheimliches Leid nach sich. Nicht nur Soldaten bekämpfen sich, auch die Zivilbevölkerung ist von Angriffen betroffen. Zahlreiche Tote und Verletzte betrauert die Welt. Die Zerstörungswut der Angreifer ist anhand der Bilder aus ukrainischen Städten wie Mariupol zu erahnen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert deshalb eine Flugverbots-Zone über seinem Land. Mehrmals bat er die Staaten der Nato darum, diese einzurichten. Der Westen lehnt bislang ab. Die Begründung lieferte Außenministerin Annalena Baerbock eindringlich: „Das sind die Momente in der Außenpolitik, wo man eigentlich nur zwischen Pest und Cholera wählen kann“, sagte sie am Sonntag bei Anne Will in der ARD.
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Wenn Russland die Flugverbotszone missachte, müsste die Nato russische Flugzeuge abschießen. „Das hieße, wir wären direkt in diesen Krieg involviert“, sagte Baerbock weiter. Man trage die Verantwortung, dass dieser Krieg nicht zu einem dritten Weltkrieg führe - der atomar ausgetragen werden könnte.
Die Angst in der deutschen Bevölkerung ist hoch vor einem Szenario, in dem die Nato aktiver Kriegspartner wird. Wie eine Forsa-Umfrage vom Montag im Auftrag von RTL und ntv ergab, befürchten 69 Prozent, dass die Nato in den Konflikt hineingezogen wird.
Dieses Szenario muss nicht unbedingt mit einer Flugverbotszone über der Ukraine beginnen. Ebenso könnte ein russischer Angriff auf eine der Mitgliedsstaaten der Nato wie Lettland, Litauen oder Estland dazu führen, dass die Nato aktiver Kriegsteilnehmer wird. Dann würde der Nato-Bündnisfall greifen. Der dritte Weltkrieg wäre kaum noch zu verhindern, der Einsatz von Atomwaffen möglich.
Aber was passiert bei einem Atomschlag?
Das hat der Wissenschaftskanal von Funk, einem Online-Content-Netzwerk der ARD und des ZDF, das sich insbesondere an Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 29 Jahren richtet, bereits vor mehreren Jahren in einem Video eindringlich erklärt. Der Abwurf einer Atombombe über einer Großstadt würde in drei Phasen unterteilt werden können.
- In der ersten Phase entsteht ein Plasmaball, heißer als die Sonne. Innerhalb dieser Kugel löst sich alles in Luft auf - Gebäude, Autos und Menschen. Innerhalb einer Millisekunde. Ein Lichtblitz entsteht. Wer zufällig hineinblickt, erblindet für mehrere Stunde. Der Blitz ist so heiß, dass alles im Umkreis von 13 Kilometern anfängt, zu brennen. Auf einer Fläche von gut 500 Quadratkilometern verbrennt alles, was brennen kann.
- Erst danach, in Phase zwei, merken die meisten Menschen, dass etwas nicht stimmt. Jetzt verbreitet sich eine Druckwelle dermaßen explosionsmäßig - stärker als ein Hurrican -, dass ihr so gut wie nichts standhalten kann. Gebäude stürzen ein wie Kartenhäuser, Feuer breitet sich aus. Der berühmte Atompilz steigt in die Luft. Bis zu 21 Kilometer rast die Welle auf alles zu, zerborstet Fenster und sorgt für Zerstörung.
- Die dritte Phase ist für die meisten Menschen die schlimmste, denn sie trifft die, die den Atomschlag in der Umgebung überlebt haben. Ganz auf sich allein gestellt, viele schwer verletzt, ohne zu wissen, was passiert ist, können sie keine Hilfe erwarten. In Folge der Nuklearwaffen-Explosion entsteht ein radioaktiver Niederschlag, schwarzer Regen nieselt auf die betroffene Stadt nieder, radioaktive Asche senkt sich, Gift gelangt in die Lungen der Überlebenden. Die Menschen, die die höchste Strahlendosis abbekommen, sterben in den nächsten Stunden. Die, die auch das überleben, bekommen kaum Hilfe, erkranken in den nächsten Monaten und Jahren an Krebs - für sie wird es nie wieder, wie es vorher war.
Schädigt ein Atomkrieg nur die betroffene Region?
Nein. Wissenschaftler auf der ganzen Welt haben zu diesem Thema geforscht. Wie die Stuttgarter Nachrichten berichten, zeigt eine Studie der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) beispielsweise: Selbst ein regional begrenzter Atomkrieg hätte zur Folge, dass die globalen Temperaturen plötzlich abfallen. Auch der Niederschlag würde stark abnehmen, da bis zu zehn Prozent weniger Sonnenlicht aufgrund des Rauches und des Staubs zur Erdoberfläche dringen würde.
Use your voice and sign this petition by @IPPNW calling all for NATO and the Russian Federation to renounce the use of nuclear weapons in this conflict and for an immediate cease-fire and the withdrawal of all Russian military forces. #nuclearban
— ICAN (@nuclearban) March 2, 2022
✍️https://t.co/ZO2GZJBuss pic.twitter.com/ILXDkDft90
Der plötzliche Temperaturrückgang würde laut der Wissenschaftler zu einem nie dagewesenen Schock im Ernährungssystem führen. Die Landwirtschaft wäre aufgrund der plötzlichen Abkühlung auf der ganzen Welt bedroht. Hunderte Millionen Menschen wären vom Hungertod bedroht. Viele Menschen auch außerhalb der Zielgebiete würden sterben - „durch Unterernährung, einfach wegen der indirekten klimatischen Auswirkungen“, erklärt der Klimatologe Alan Robock von der Rutgers University (US-Bundesstaat New Jersey).
Der Klimawandel ließe sich übrigens nicht durch einen Atomkrieg eindämmen, auch wenn die Temperatur auf der Welt rasch sinken würde. Nach etwa einem Jahrzehnt der Abkühlung würde die Erderwärmung wieder steigen.
Wie funktioniert eine Atomwaffe?
Die zerstörerische Energie der Atombombe entsteht durch die Kernspaltung und Kernverschmelzung von radioaktiven Materialien wie Uran und Plutonium. Die Explosion setzt Druck, Hitze und radioaktive Strahlung frei. Gemessen wird die Kraft der Atombombe in Kilotonnen (kt) und Megatonnen (mt). Je höher die Explosionsenergie, desto größer die Zerstörungskraft der Bombe.
Was bei einem Atomschlag in Berlin als Beispiel passieren würde, lässt sich mit Hilfe einer interaktiven Karte erahnen. Auf der Seite nuclearsecrecy.com ist es möglich, mit wenigen Klicks herauszufinden, was in und um Berlin passieren würde, wenn dort einen Atombombe einschlägt. In dem Beispiel kann auch die Bombe und deren Kraft ausgewählt werden. Je nach Bombe wird mehr oder weniger im Bereich um Berlin zerstört.
Kalkuliert hat das Tool der am Stevens Institute of Technology ansässige Historiker und Nuklearexperte Alex Wellerstein. Bereits 2012 hatte er das Onlinetool konstruiert, seit dem Krieg gegen die Ukraine bemerkt er einen Anstieg der Besucherzahlen auf der Webseite. Überall auf der Welt spielen Menschen dort den Effekt einer Atombombenexplosion nach. Waren an einem normalen Tag ohne Krise bis zu 20.000 Menschen auf der Homepage, seien es nun mehr als 150.000, sagte Wellerstein Anfang März im Gespräch mit der US-Zeitschrift „The Atlantic“.
Wie viele Atomwaffen stehen sich in Europa gegenüber?
Das Friedensforschungsinstitut Sipri zählte Anfang 2021 insgesamt 13.080 Atomwaffen weltweit, knapp 12.000 davon in den Händen der USA (5500) und Russlands (6255). Das sind zwar deutlich weniger als zu den Hochzeiten des Kalten Krieges mit etwa 70.000. Dafür sind die Atomwaffen inzwischen moderner und schlagkräftiger.
Es gibt keine offiziellen Angaben darüber, wie viele Atomwaffen in Europa stationiert sind. Nach Schätzung des US-Forschungsinstituts Center for Arms Control and Non-Proliferation lagern etwa 100 US-Atomwaffen in fünf europäischen Nato-Staaten: Deutschland, Belgien, Niederlande, Italien und Türkei. Außerdem besitzt Großbritannien laut Sipri 225 Atomwaffen und Frankreich 290.
Welche Reichweite haben russische Atomraketen?
Russland verfügt über Raketen aller Reichweiten. Die mit Atomsprengköpfen bestückbaren Langstreckenbomber lässt Putin schon seit Jahren immer wieder um den Erdball kreisen. Die Interkontinentalraketen fliegen über 10.000 Kilometer. Die Sarmat-Interkontinentalraketen ( NATO-Codename: SS-X-30 Satan 2) haben 18.000 Kilometer Reichweite. Damit kann Russland sowohl über den Nord- als auch über den Südpol angreifen und Ziele weltweit erreichen.
Wie viele Atomwaffen gibt es noch in Deutschland?
In den 80er-Jahren waren noch 7000 Atomwaffen in beiden Teilen Deutschlands stationiert. Heute sind nach Expertenschätzungen 15 bis 20 Bomben der USA übrig, die auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern. Offizielle Angaben gibt es dazu zwar nicht. Es gilt aber als offenes Geheimnis, dass es sich um Bomben vom Typ B61-4 handelt.
Sie sind 3,58 Meter lang, sehen aus wie kleine Raketen und haben eine Sprengkraft von bis zu 50 Kilotonnen - vier Mal so viel wie die Bombe, die vor fast 80 Jahren die japanische Großstadt Hiroshima in Schutt und Asche legte.
Welche Rolle hätte Deutschland in einem Atomkrieg?
Die Bomben von Büchel sind Deutschlands Beteiligung an der nuklearen Abschreckung der Nato. Sollten sie zum Einsatz kommen, würden Kampfjets der Bundeswehr sie zum Ziel transportieren und abwerfen. Spitzenpolitiker aller drei Koalitionsparteien haben immer wieder Mal den Abzug dieser Bomben aus Deutschland gefordert. Diese Diskussion dürfte sich mit dem von Kanzler Olaf Scholz vollzogenen Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik aber erledigt haben.
Für wie wahrscheinlich halten Experten, dass die Lage eskaliert?
„Das ist verbales Säbelrasseln“, sagte der Nuklearwaffenexperte Hans Kristensen der „New York Times“. Er betont: „Wir werden sehen, wohin er (Putin) damit steuert.“
Matthew Kroenig, der ebenfalls zu Atomwaffen forscht, sagte der Zeitung: „Staaten mit Atomwaffen können keinen Atomkrieg führen, weil sie damit ihre Auslöschung riskieren würden, aber sie können damit drohen und tun es auch.“ Es sei eine Art Spiel, um das Kriegsrisiko zu erhöhen, „in der Hoffnung, dass die andere Seite einen Rückzieher macht und sagt: ‚Oh je, das ist es nicht wert, einen Atomkrieg zu führen.‘“ Der Atomkrieg stehe also nicht kurz bevor.
Auch Nuklearexperte Wellerstein befürchtet nicht, dass der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Vorstufe eines dritten Weltkriegs mit Atomwaffen ist, wie er am Dienstag auf Twitter verdeutlichte. „Ich bleibe nicht die ganze Nacht wach und mache mir deswegen Sorgen“, betonte er. „Ich glaube nicht, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass das passiert.“ Es gebe zwar die Möglichkeit, aber sie erscheine ihm eher unwahrscheinlich.
But I hope it doesn't, obviously. I am not staying up all night worrying about this. (I'm staying up all night working on the NUKEMAP servers, obviously.) I don't think there's a high chance of this happening. There's a chance — but it seems rather unlikely to me. 23/
— Alex Wellerstein (@wellerstein) March 7, 2022
mit dpa
Der Artikel "Was passiert beim Abwurf einer Atombombe – und wie (un)wahrscheinlich ist ein Atomkrieg?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
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