Kinderärztin nimmt Angst vor der Impfung: Corona und der kleine Piks

Corona-Impfung bei Kindern

Sibylle Mottl-Link, Ärztin auf einer Kinderstation, schreibt in ihrem jüngsten Buch über Impfungen und unser Immunsystem. Im Interview spricht sie über den kleinen Piks und seine Verantwortung.

von Birk Grüling

, 07.04.2021, 19:50 Uhr / Lesedauer: 5 min
Kinderärztin nimmt Angst vor der Impfung: Corona und der kleine Piks

© picture alliance/dpa/dpa-tmn

Sibylle Mottl-Link, geboren 1971, ist die „Ärztin mit der sprechenden Hand“ und Kinderbuchautorin. Schon im letzten Jahrtausend erfreute die Ärztin ihre kleinen Patienten auf der Kinderstation mit einer vorlauten Handpuppe. Mittlerweile sind noch mehr plüschige Assistenten dazugekommen. In ihrem neuen Buch über das Immunsystem widmet sich Mottl-Link auch dem Thema Corona-Impfung und Kinder.

Frau Mottl-Link, interessieren sich lesende Kinder schon für Impfungen und Immunabwehr?

Die Kinder hören im Moment täglich etwas von Impfungen in den Nachrichten, im Gespräch der Eltern oder in der Kita. Da entsteht zwangsläufig Interesse. Kinder wollen schließlich ihre Welt verstehen. Aber auch ohne Corona finde ich es wichtig, dass unsere Kinder verstehen, was ein Immunsystem ist oder was bei einer Impfung passiert – auch wenn sie natürlich noch nicht selbstständig über den kleinen Piks entscheiden können. Auch in der Klinik erlebe ich es immer wieder, dass die Kinder sehr genau wissen wollen, wie ihr Körper funktioniert oder Krankheiten entstehen. Umso wichtiger ist es ihnen, verständliche Antworten zu bekommen. Das höre ich übrigens auch oft von Eltern. Sie sind über meine Kinderbücher mindestens genauso glücklich, vor allem, weil sie oft selbst keine Antworten auf die medizinischen Fragen ihrer Kinder haben oder selbst noch etwas dazulernen.

Wie wichtig ist „kindliche Aufklärung“ bei medizinischen Themen gerade in Zeiten der Corona-Pandemie?

Kinder sind sehr gut darin, Regeln zu befolgen. Ich war im letzten Herbst auf Lesereise. Das kleine Publikum trug ohne Murren die Masken, hat sich die Hände desinfiziert und Abstand gehalten. Da waren sogar Kinder, die Erwachsene ermahnten, wenn die Maske nicht richtig saß. Die Diskussion um Maskenpflicht in der Schule entstand aus meiner Sicht auch eher durch die Eltern und Lehrkräfte. Die Kinder selbst haben viel weniger Probleme damit und zeigen sich oft sogar disziplinierter als wir Großen. Umso wichtiger ist es, ihnen die notwendigen Dinge wie Hände waschen oder Abstand halten zu erklären. Um die Einhaltung muss man sich dagegen kaum Sorgen machen, sie wird für Kinder zur Normalität.

Ihr Buch heißt „Keine Angst vor dem kleinen Piks!“. Wer hat denn mehr Angst vor Spritzen und Impfungen, die Eltern oder die Kinder?

Das ist ganz unterschiedlich. Selbst ich als Mutter und Medizinerin musste mich erst mal daran gewöhnen, wenn meine Kinder eine Spritze bekamen und ihnen „Schmerz“ zugefügt wurde. Mir half damals die Gewissheit, dass dieser kleine Piks eine wichtige Wirkung hat und meine eigenen Kinder schützt. Das hilft etwas, aber natürlich leidet man als Mutter oder Vater immer ein bisschen mit. Ich hatte auch schon Kinder in der Klinik, die ihre Eltern bei einer Spritze getröstet haben.

Neben der Spritze selbst herrscht bei manchen Eltern eine diffuse Angst vor der Impfung selbst. Können Sie sich erklären, woher die Skepsis gegenüber etablierten und sehr erprobten Impfstoffen wie gegen Masern oder Röteln kommt?

Ich habe das Gefühl, dass sich Eltern heute noch intensiver mit dem Thema Impfen auseinandersetzen. Sie sind in den Aufklärungsgesprächen deutlich informierter als noch meine Elterngeneration. Sie wollen höchstens noch wissen, wie sie den Kindern den Piks erleichtern können und was bei Impfreaktionen zu tun ist. Auch die Impfbereitschaft unter Eltern ist sehr erfreulich. Wir haben Impfraten zwischen 96 und 98 Prozent. Allerdings ist die impfbereite Mehrheit nicht so mitteilungsbedürftig wie die Impfskeptiker. Die sind umso lauter, gerade in den sozialen Netzwerken oder auf Querdenker-Demonstrationen. Dadurch entsteht eine oft etwas verschobene Wahrnehmung von immer impfskeptischeren Eltern, die in der Praxis eigentlich nur eine kleine Minderheit sind.

Wie geht man denn als Medizinerin mit den Impfskeptikern um?

Fundierte Argumente und Unsicherheiten ernst zu nehmen ist ein guter Weg. Ich habe früher öfter in einer Kinderarztpraxis ausgeholfen. An einen Fall erinnere ich mich besonders. Da war eine Kinderkrankenschwester, die große Zweifel an der Masernimpfung hatte. Mit ihr kam ich ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass sie selbst auf der Intensivstation mit einem Kind zu tun hatte, das an einer Hirnhautentzündung ausgelöst durch Masern litt. Diese Erinnerung und das Gespräch darüber haben sie am Ende zum Umdenken gebracht. Natürlich gibt es nicht nur Impfskeptiker, die einfach unsicher sind, sondern leider auch die Unbelehrbaren. Allerdings sind das nur 2 bis 3 Prozent aller Eltern – diese laute Minderheit ist wirklich für Argumente verloren. Auch für deren Kinder übernehmen wir anderen also die Verantwortung, indem wir uns impfen lassen.

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Also hat der kleine Piks auch eine gesellschaftliche Dimension?

Absolut. Dank einer großen Impfbereitschaft sind schwere Kinderkrankheiten wie Polio oder Pocken verschwunden. Wer mal die historischen Bilder von Kindern gesehen hat, die nach einer Polioerkrankung in „eisernen Lungen“ lagen, kann sich das Leid der Familien vorstellen. Solche Schicksale müssen wir zum Glück heute nicht mehr erleben. Mit einer Impfung schützen wir aber nicht nur uns, sondern eben auch andere, die schwangere Nachbarin oder das Kita-Kind, das nach einer Krebstherapie ein geschwächtes Immunsystem hat und selbst nicht geimpft werden kann. Genau deshalb ist das Impfen ein solidarischer Akt – zum Glück haben das die allermeisten Menschen verstanden. Gleiches gilt übrigens auch für die Corona-Maßnahmen. Die meisten Menschen halten sich sehr streng an die Empfehlungen, treffen sich kaum mit anderen und schützen die Risikogruppen. Sie sind dabei aber nicht so laut wie die Querdenker, sondern verhalten sich ruhig, diszipliniert und verantwortungsvoll.

Was spricht für eine Corona-Impfung auch für Kinder?

Wir sehen bei Kindern und Jugendlichen immer noch eher milde Verläufe – auch bei den neuen Mutanten. Allerdings besteht auch hier die Gefahr von schwerwiegenden und langwierigen Folgen. Bei uns in der Klinik waren gerade erst zwei Kinder, die nach einer starken Überreaktion des Immunsystems auf die Intensivstation verlegt werden mussten. Überlebt haben zwar beide. Bei einem Neunjährigen bleiben allerdings schwerwiegende Schäden am Herzen mit Folgen für sein restliches Leben. Auch die Zahl der Spätfolgen bei Kindern steigt. Sie hatten oft anfangs einen sehr leichten Verlauf, kämpfen aber trotzdem noch Wochen später mit Kurzatmigkeit oder Erschöpfung. Vor solchen Folgen könnten wir unsere Kinder durch eine Impfung schützen. Außerdem wäre ihre Impfung ein wichtiger Baustein für die endgültige Rückkehr zur Normalität. Die Kinder könnten wieder ihre Großeltern besuchen, die eigentlich zur Risikogruppe gehören, und wieder normal in die Schule oder den Kindergarten gehen. Auch das ist immens wichtig für die kindliche Entwicklung.

Wie lange werden wir noch auf die Corona-Impfung für Kinder warten müssen?

Also vor Anfang nächsten Jahres rechne ich nicht mit einer Impfung für die Kinder und Jugendlichen. Umso erfreulicher finde ich die Nachricht, dass inzwischen alle großen Impfhersteller mit den klinischen Studien begonnen haben.

Da sprechen Sie ein hochemotionales Thema an. Unlängst waren Kommentare unter einer „Tagesschau“-Meldung zu Corona-Impfungen für Kinder zu lesen. Die Meinungen gingen von „endlich“ über „Kinder brauchen nur Vitamine und frische Luft“ bis zu „das sind Versuche an den Kindern“. Verstehen Sie diese Schärfe in den Debatten?

Ja, durchaus. Kinder können nicht selbst über eine Impfung entscheiden und wir Eltern haben das Wohl des Kindes im Blick. Deshalb wollen wir uns bei unserer Entscheidung sicher sein. Das Dilemma: Für diese Sicherheit muss es klinische Studien und viel Forschung geben, auch mit Kindern. In der Medizin setzen wir regelmäßig Medikamente ein, die eigentlich noch nicht für Kinder freigegeben sind – zum Beispiel bei Behandlungen in der Notfall- oder Intensivmedizin. Und damit retten wir Menschenleben. Es ist also ein Abwägen zwischen Risiko und Nutzen, und Emotionen lassen sich dabei nicht ausklammern, immerhin geht es um Kinder.

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Kinder erkranken trotz allem weniger heftig an Corona. Wird es dadurch schwieriger, die Eltern von der Sinnhaftigkeit der Impfung zu überzeugen? Bei Erwachsenen ist die Impfung – auch mit gewissen Risiken – deutlich „einleuchtender“, um die eigene Gefahr vor einem schweren Verlauf zu minimieren.

Das ist eine Frage von guter Impfaufklärung. Klar gibt es Krankheiten wie Masern oder Polio, deren direkte Folgen sehr dramatisch sein können. Aber wir impfen auch gegen Röteln, nicht nur um die Kinder selbst vor einer eher „milden“ Erkrankung zu schützen, sondern eben auch Schwangere und deren ungeborenes Leben. Und eine ähnliche gesellschaftliche Verantwortung der Eltern sehe ich auch bei der Corona-Impfung für Kinder. Wir tun das nicht nur für unseren eigenen Nachwuchs, sondern auch für die Mitmenschen und andere Kinder, die eben zur Risikogruppe gehören und für die ein Schutz überlebenswichtig ist.

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