In "Kriegspassagen" durchlebt der Zuschauer den Krieg

Theater Freuynde+Gaesdte

Der Kontrast hätte am Samstagabend nicht größer sein können: Fußballfans jubeln an der Promenade über den Etappensieg Brasiliens bei der WM, die kleine Zuschauergruppe des Theaters „Freuynde + Gaesdte“ erlebt in fünf Etappen den Krieg.

MÜNSTER

, 29.06.2014, 22:09 Uhr / Lesedauer: 2 min
Der Gefreite (Johan Schüling, l.) und der Offizier (Konrad Haller) beginnen ihren Dialog am so genannten 13er-Denkmal: Am Denkmal für das 13. Infanterieregiment im Ersten Weltkrieg. Das Stück führt über die Promenade.

Der Gefreite (Johan Schüling, l.) und der Offizier (Konrad Haller) beginnen ihren Dialog am so genannten 13er-Denkmal: Am Denkmal für das 13. Infanterieregiment im Ersten Weltkrieg. Das Stück führt über die Promenade.

Geführt wird er von zwei Männern in schlichten Anzügen, denen man die Versehrtheit erst auf den zweiten Blick ansieht. Der Gefreite, gespielt von Johan Schüling, hat ein blindes linkes Auge; der Offizier, gespielt von Konrad Haller, verbirgt seine linke Hand unter einem Lederhandschuh. Sie gehen so gemächlich von Denkmal zu Denkmal, als würden sie gar nicht bei sich sein, als würden sie eigentlich ihre Erinnerungen abschreiten oder in einem Traum wandeln, der sie an Orte des Schreckens zurückführt. Sie scheinen sich selbst fremd zu sein. Der Zuschauer erlebt mit ihnen kurze, nur schlaglichtartige Szenen aus vier Jahren Erster Weltkrieg, die aber völlig ausreichen, um das Ausmaß des Horrors begreiflich zu machen, ja, sogar zu ermessen.

Die Szenen sind geschickt gewählt – aus Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, aus Edlef Köppens „Heeresbericht“, aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ und aus Ludwig Renns „Krieg“. Der Zuschauer ist bei der enthusiastischen Einberufung im Jahr 1914 dabei, wo Brötchen und Schokolade an die Soldaten verteilt werden. Er hört den Brief einer Mutter an den Kriegsfreiwilligen Adolf Reisiger aus Köppens „Heeresbericht“: „Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, wo diese großen Massen von Soldaten, die Deutschland jetzt auf die Beine bringt, alle herkommen, und wie dieser ganze Betrieb funktioniert.“

Düster, aufwühlend und schockierend ist die Szene am Kürassierdenkmal an der Weseler Straße. Das Publikum steht unter Bäumen, die Schauspieler flankieren die Seiten des Denkmals, sehen sich nicht an. Ihre Gesichter sind für die Zuschauer kaum erkennbar, im Gegenlicht bleiben sie dunkel. Eine beklemmende Atmosphäre, die sich durch die Worte aus Remarques Roman ins beinahe Unerträgliche steigert, so bildmächtig ist er geschrieben, so eindringlich wird hier gesprochen. Die Soldaten sind auf einem Friedhof, als sie angegriffen werden. Haller brüllt zackig, Schüling ist der blutjunge Gefreite, den die Erlebnisse sichtlich übermannen. Als die Einschläge enden, finden sie einen verwundeten Rekruten. Seine Hüfte ist getroffen: „Sie ist ein einziger Fleischbrei mit Knochensplittern.“ Was soll man tun? „Sollte man da nicht einfach einen Revolver nehmen, damit es aufhört?“ Ein Schuss fällt. Es geht weiter zum nächsten Denkmal.

Haller und Schüling spielen enorm zurückgenommen, reduzieren Mimik und Gestik radikal, haben kaum Requisiten – und erreichen mit den wenigen Mitteln größte Wirkung. Das ist unbedingt sehenswert. Zum Schluss rufen sie sich nur noch die Zahlen der Toten zu, Millionen über Millionen – und verschwinden hinter dem Kriegerdenkmal am Mauritztor. Selbst der langanhaltende Applaus holt sie nicht wieder hervor. Sie bleiben verschwunden. Wie die Toten.