Freedom Day? Britischer Corona-Experte warnt: „Nicht plötzlich alle Maßnahmen ausschalten“

Coronavirus

Ab dem 20. März sollen die meisten Corona-Maßnahmen in Deutschland aufgehoben werden. Die Pandemie sei aber nicht im Wesentlichen vorbei, warnt der britische Corona-Experte Peter Openshaw.

Berlin

von Saskia Heinze

, 12.03.2022, 18:00 Uhr / Lesedauer: 4 min
Immer mehr Corona-Maßnahmen in Deutschland fallen, die meisten sollen am 20. März aufgehoben werden. Der britische Corona-Experte Peter Openshaw warnt davor: Die Zahl der Toten werde nicht Ernst genommen.

Immer mehr Corona-Maßnahmen in Deutschland fallen, die meisten sollen am 20. März aufgehoben werden. Der britische Corona-Experte Peter Openshaw warnt davor: Die Zahl der Toten werde nicht Ernst genommen. © picture alliance/dpa

Ab dem 20. März soll in Deutschland ein großer Teil der Corona-Maßnahmen beendet werden. Großbritanniens Regierung hat bereits Ende Januar einen Großteil der Regeln aufgehoben, Ende Februar dann auch die zur Selbstisolierung nach einer Ansteckung. War das dort die richtige Strategie? Wohl eher nicht, sagt Peter Openshaw im Gespräch mit dem RND. Der Wissenschaftler ist einer der führenden Corona-Experten im Land.

Herr Openshaw, Sie haben in Großbritannien davor gewarnt, dass die Pandemie sicherlich noch nicht vorbei ist. Die britische Regierung hat vor wenigen Wochen das Ende aller Corona-Maßnahmen verkündet. Warum waren Sie skeptisch?

Wir hatten im Februar immer noch sehr hohe Zahlen. Es gab mehrere Millionen Menschen in Großbritannien, die aktiv infiziert waren. Und es war klar, dass es mit den Lockerungen noch mehr Corona-Infektionen geben würde. So ist es dann auch gekommen: Die Fallzahlen sind in kürzester Zeit ziemlich stark gestiegen. Am 24. Februar hatten wir rund 40.000 neue Fälle am Tag, Anfang März waren es schon rund 70.000.

Wen trifft das Virus am meisten?

Vor allem Kinder und Menschen, die sich um Kinder kümmern, haben sich angesteckt. Jetzt sehen wir, dass das Virus auch wieder auf die über 55-Jährigen übergeht. Es gibt inzwischen eine Zunahme der Krankenhauseinweisungen bei den Älteren, die anfälliger sind für Covid-19. Vor allem, wenn der Booster schon länger zurückliegt oder keiner erhalten wurde.

War der durch die Regierung verkündete „Freedom Day“ die falsche Botschaft?

Die Regierung hat der Bevölkerung mitgeteilt: Wir wollen jetzt zurück zur alten Normalität. Ich denke, dass damit der starke Anstieg der Infektionen zusammenhängt. Die Normalität sollte aber nicht bedeuten, alle Schutzmaßnahmen zu verwerfen, bei denen wir wissen, dass sie effektiv sind. Es ist nicht so, dass von einem Tag auf den anderen entweder Pandemie ist – oder eben nicht.

Welche Strategie hätten Sie befürwortet?

Es braucht natürlich keinen Lockdown mehr. Aber es sollten auch nicht plötzlich alle Maßnahmen ein- oder ausgeschaltet werden. Wir können zum Beispiel weiter Masken tragen. Wir können uns im Alltag sozial distanzieren. Wir können von zu Hause aus arbeiten, wo es möglich ist. Wir können uns impfen lassen. Wir brauchen auch unsere frühen Warn‑, Monitoring‑ und Testsysteme, um Informationen für eine gute Gesundheitspolitik zu bekommen. Es ist sehr schwierig, diese Dinge wieder einzuführen, wenn sie erst mal eingestellt werden.

Sterben denn in Großbritannien weiterhin viele Menschen an Covid-19?

Wurden im Januar noch rund 400 Tote am Tag gemeldet, sind es inzwischen rund 100 bis 150. Aber das ist immer noch eine sehr hohe Zahl. Ich denke, wir würden das definitiv sehr ernst nehmen, wenn wir nicht zwei Jahre Pandemie hinter uns hätten. Wir haben uns daran gewöhnt, diese Art von Statistiken zu sehen. Aber wir nehmen sie nicht so ernst, wie wir sollten.

Kann man in Großbritannien schon von einer endemischen Phase sprechen?

Es gibt da ein Missverständnis. Wird eine Infektion endemisch, bedeutet das nicht unbedingt, dass diese mild verläuft. Man denke zurück an die Zeit, als Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Pocken endemisch wurden. Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit bestanden weiterhin und kontinuierlich. Meine Sorge bei Omikron ist, dass das ein relativ neues Virus ist.

Wir wissen nicht, in welche Schwierigkeiten wir uns in Zukunft bringen, wenn wir dem Virus jetzt erlauben, zuerst unkontrolliert unter den schulpflichtigen Kindern zu kursieren – und dann zuzulassen, dass es sich über die Generationen hinweg verbreitet. Ich denke, wir sollten sicherstellen, dass die Menschen sehr hohe Impfquoten haben. Gleichzeitig wäre es klug, das Level der Infektionen weiter durch Schutzmaßnahmen niedrig zu halten.

Denken Sie, dass es im Sommer wieder so etwas wie eine Pause von Corona geben wird?

Eigentlich haben wir das gut hinbekommen, die Fallzahlen unten zu halten – bis die Regierung verkündet hat, dass die Pandemie im Wesentlichen vorbei sei. Jetzt ist es sehr schwer, vorherzusagen, wohin es gehen wird. Ich hoffe, dass der aktuelle Anstieg der Fälle, die wir in Großbritannien in den letzten Wochen seit unserem „Freedom Day“ gesehen haben, flacher wird. Aber wir müssen abwarten, wie sich die Menschen verhalten.

Gibt es angesichts der hohen Infektionszahlen denn eine Diskussion in Großbritannien darüber, Schutzmaßnahmen wieder einzuführen?

Es gibt eine sehr starke politische Tendenz, die Gesellschaft zu öffnen und der Wirtschaft zu erlauben, wieder zu wachsen. Die Menschen sind auch wegen anderer Krisen in den Nachrichten im Moment nicht so auf Corona fokussiert. Ich denke, dass erst neue Maßnahmen eingeführt würden, wenn eine neue Variante kursiert, die zu schwereren Krankheitsverläufen führt und dem Immunschutz ausweicht.

Ist so ein Szenario denn realistisch?

Forschende sind sich einig, dass weitere Varianten kommen. Wir wissen aber nicht, ob diese leichtere oder schwerere Verläufe auslösen werden. Wir können auf das Beste hoffen, aber sicher ist das nicht. Omikron ist nicht aus dem vorher zirkulierenden Delta-Stamm heraus entstanden, sondern einem viel früher entstandenen Virusstrang.
Über ein Jahr war dieser untergetaucht, und dann kam plötzlich Omikron. Es könnte also gut sein, dass die nächste Variante, die übernimmt, eine sein wird, die nicht mit den derzeit zirkulierenden Virenstämmen zusammenhängt. Sie könnte leichter übertragbar sein und auch schwerere Verläufe hervorrufen.

Wie werden wir 2023 über das Coronavirus sprechen – im Best-Case‑ und im Worst-Case-Szenario?
Im besten Fall verursacht das Virus sehr milde Infektionen, die bei den allermeisten Menschen keine Symptome mehr hervorrufen. Es kursiert weiter durch die breite Bevölkerung, was effektiv jedem und jeder langfristig Immunität verleiht. Im schlimmsten Fall werden wir eine Serie neuer Varianten sehen, die alle Immunantworten zunehmend umgehen. Es sind auch Varianten denkbar, die sehr übertragbar sind und bei bis zu 10 Prozent der Infizierten zum Tod führt. Das ist alles im Bereich des Möglichen.
Deshalb wäre es auch wichtig, dass die Fallzahlen weltweit niedrig gehalten werden und der Zugang zu Impfungen garantiert ist. Dann ist es auch weniger wahrscheinlich, dass neue Varianten entstehen.

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