„German Maskenangst“? Zwischen Sehnsucht nach Freiheit und der Angst vor dem Virus
Coronavirus
Während einige den Lockerungen der Maskenpflicht im Land und der neuen, alten Freiheit entgegen fiebern, zögern andere nach zwei Jahren Pandemie noch - aus Angst vor der nächsten Welle.

Feiern ohne Abstand und Maske – die einen sehen sich danach, die anderen fürchten die nächste Corona-Welle. © picture alliance/dpa
Der DJ arbeitet mit echten Schallplatten. Um ihn herum tanzt die Menge im abwechselnd roten, grünen, violetten und gelben Licht. Ein Mann, Mitte 20, versucht zum dritten Mal an diesem Abend sein Glück und tanzt eine Frau an. „Findest du es nicht merkwürdig so ganz ohne Maske“, raunt eine Frau eine Bekannte an, die ebenfalls abseits der Tanzfläche steht, „also ich hab echt kein gutes Gefühl dabei - bei den Inzidenzen.“
Während das junge Partyvolk aus den USA und Schweden, aus den Niederlanden und England, ausgelassen feiert, stehen die Deutschen am Rande und wippen mit dem Bier in der Hand - fast ungläubig staunend, was sich da gerade abspielt. Es ist doch immer noch Pandemie!
Eine Party im Jahr 2022, nach zwei Jahren Corona-Pandemie, nach zwei Jahren, in denen wir beim Einkaufen, im Zug, in der Disco, auf dem Wochenmarkt und im Theater, keine Gesichter mehr gesehen haben. Zwei Jahre, nachdem wir an unserem Gegenüber kein Lächeln gesehen haben, keine Miene. Zwei Jahre, in denen lediglich unsere Augen gesprochen haben. Und nun, so plötzlich wie sie in unserem Alltag auftauchte, soll sie also ein Ende finden: die Maskenpflicht.
Deutschland wagt sich aus seiner Coronaschutz-Komfortzone
Zahlreiche Länder haben es vorgemacht, England, Island, Ungarn und Norwegen haben die Corona-Beschränkungen inklusive Maskenpflicht aufgehoben, auch in Schweden, Finnland, Dänemark, Frankreich, Luxemburg und Österreich sieht man die Maske nur noch in wenigen Innenräumen wie Krankenhäusern oder maximal in Zügen, Bussen und Bahnen.
Selbst Deutschland, lange Verfechter der „Maskenpflicht-ist-das-beste-Mittel-gegen-Neuinfektionen“-Strategie bewegt sich ab dem 20. März aus seiner Komfortzone: In Flugzeugen und Fernzügen bleibt die Maskenpflicht bestehen, darüber hinaus sollen die Bundesländer aber nur noch das Tragen einer medizinischen Maske in Bussen, Bahnen, Kliniken und Pflegeeinrichtungen anordnen können, wie aus einem Gesetzesentwurf hervorgeht. Von einer Maskenpflicht in Supermärkten, Gaststätten und anderen Einrichtungen ist nur noch in Hotspots die Rede; wenn neue Virusvarianten oder Engpässen in der Gesundheitsversorgung auftauchen, können diese zusätzlichen Maßnahmen verhängt werden.
Skandinavien will die Freiheit, die Deutschen haben Angst
Während in vielen Ländern das Ende der Maskenpflicht herbeigesehnt wurde oder wie in Schottland und Slowenien noch wird, während wie in Dänemark die große Mehrheit für ein Ende der Regeln war, und wie in Norwegen schon im vergangenen Sommer, als der Mund-Nasen-Schutz in Zügen und Bussen nur noch eine Empfehlung war, kaum mehr Masken zu sehen waren, verhält es sich in Deutschland etwas anders.
Die Deutschen sind vorsichtiger - oder wollen es zumindest sein. In einer Umfrage der „Bild am Sonntag“ gaben 52 Prozent der Befragten an, auch ohne Maskenpflicht weiterhin Maske zu tragen. Vor allem im ÖPNV (79 Prozent) und im Einzelhandel (76 Prozent) wollen viele Deutsche nicht mehr auf das Corona-Accessoire verzichten. Jüngste Studien zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen die Corona-Regeln nach wie vor unterstützt.
Wir wollen also gar nicht unbedingt zurück, zumindest nicht jetzt. Wir wollen noch keine Gesichter sehen, nicht eng tanzen und ausgelassen feiern. Oder doch?
Corona-Angst in Deutschland ist kulturell und gesellschaftlich geprägt
Es gebe vorsichtige und weniger vorsichtige Menschen, sagt der Psychologe Jürgen Margraf von der Universität Bochum. Das liege zum einen an der Persönlichkeit, vor allem aber am sozialen Umfeld, an der Kultur, die eine Gesellschaft prägt. „Die situativen Bedingungen sind stärker als die Persönlichkeit“, sagt Margraf dem RND. Sprich: Die Deutschen sind per se vorsichtiger.
Ist unsere Zurückhaltung, vor allem im Vergleich mit anderen Ländern, also ein Ergebnis der „German Angst“? Dieser aus dem englischsprachigen stammende Begriff erklärt das zögerliche Verhalten Deutschlands in vielen Bereichen, es geht nicht um die individuellen Ängste einzelner innerhalb der Gesellschaft, sondern um ein Angst-Gefühl, ein Zögern einer ganzen Nation. Wenngleich auch in Deutschland seit Monaten darüber diskutiert wird, ob man lernen müsse, mit dem Virus zu leben, wie es der Virologe Hendrik Streeck fordert – noch haben diese Befürworter keine Mehrheit hinter sich. Die Deutschen lauschen lieber den warnenden Stimmen, denen des Virologen Christian Drosten oder von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).
Psychologe glaubt an schnelles Entwöhnen von der Maske
Wie lange wird das noch so sein? Glaubt man dem Psychologen Margraf, der zur Angst forscht, wird es nicht lange dauern, bis auch in Deutschland die Mehrheit für die neue, alte Freiheit ist. „Die psychologische Forschung zeigt, dass wir Menschen uns an Situationen gewöhnen und eine Drohsituation auch schnell den Schrecken verlieren kann“, sagt er. Auch wenn viele Deutsche noch großen Respekt vor Covid-19 hätten, weil sie etwa durch das Virus nahestehende Menschen verloren haben oder Freunde haben erkranken sehen, so verblasse das nach und nach.
Zum einen würde Corona weniger bedrohlich wirken, weil die Omikron-Variante seltener zum Tode führt und das Wissen über das Virus größer ist als noch vor ein oder gar zwei Jahren. Zum anderen aber gebe es seit zwei Wochen eine ganz neue Bedrohung, die uns größer und immenser erscheint, nämlich die durch den Krieg in der Ukraine, in dem auch Atomkraftwerke beschossen werden. Je weniger eine Bedrohung als solche wahrgenommen werde, desto eher verlören Menschen ihre Vorsicht, so Margraf.
Auch die extrem Vorsichtigen werden die Maske mit der Zeit ablegen
Dass die Mehrheit pro Maskenpflicht ist und auch nach dem 20. März noch eine Maske tragen will, kann sich schnell ändern, sagt Margraf. „Es wird Menschen geben, die anfangs noch Bedenken haben, die Maske abzusetzen. Aber das wird nach einer Weile abgeschliffen.“ Das Kollektiv gebe die neuen Regeln vor - wenn die ersten auf die Maske verzichten, übernehmen wir das mit der Zeit. „Es gibt extrem vorsichtige Menschen, bei denen wird es länger dauern, aber auch sie werden irgendwann die Maske ablegen.“
Auch wenn die Deutschen zu den ängstlicheren Nationen gehören (zu denen übrigens auch viele asiatische Staaten gehören, wo Masketragen schon vor der Pandemie zum guten Ton gehörte), werde ein Umdenken stattfinden. Dass wir Angst vor Gesichtern haben, dass wir uns dabei unwohl fühlen, wieder Nase und Mund am Gegenüber zu sehen, das sei „nur ein kurzfristiger Effekt“, so Margraf. „So war es bei der Einführung der Maskenpflicht in Deutschland auch: Da guckte man einander erst einmal komisch an. Aber dann findet ein Umgewöhnen statt - und das dauert auch nicht lange.“
Wenn Corona an Schrecken verliert, werden Nachteile des Masketragens präsente
Nach zwei Jahren also werden wir bald wieder Gesichter sehen. Wir werden im Bus sitzen und die Schniefnase des Sitznachbarn aushalten müssen. Wir werden wieder lernen müssen, dass manche Menschen im Supermarkt der Ansicht sind, es gehe schneller, wenn sie einem nur oft genug mit dem Einkaufswagen in die Hacken fahren. Wir werden wieder lernen müssen, dass unser Gesicht sprechen kann ganz ohne Stimme, dass man unser Lächeln, unser Grinsen, unsere heruntergezogenen Mundwinkel deuten kann, dass man uns Wut, Trauer, Frohmut ansieht.
Menschen, sagt Margraf, neigten dazu, individuelle Kosten-Nutzen-Rechnungen aufzustellen, eine Freiheit-Vorsicht-Rechnung quasi. Die Maske ist unangenehm, spannt an den Ohren, sitzt oft schlecht, man schwitzt damit. Wenn Corona dann nicht mehr als große Bedrohung wahrgenommen werde, verpuffe der Schutzgedanke und die Nachteile des Masketragens würden präsenter. Dieser Prozess kann auch von außen beschleunigt werden. Die skeptischen German Angsthasen blicken gen Skandinavien, gen Großbritannien, gen Alpen - Orte, an denen Maskenpflicht und Social Distancing schon ganz oder weitestgehend abgeschafft sind. Bleibt die Infektionslage stabil, könnte das zu einem schnelleren Akzeptieren der Freiheit führen.
Freiheit versus Furcht: Eine Kosten-Nutzen-Rechnung
Es wird also wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis sich die Deutschen unters Partyvolk mischen. „Ja“, antwortet die Frau ihrer Bekannten, die gefragt hatte, ob es nicht komisch sei so ganz ohne Maske. „Schon komisch. Aber auch, wie unterschiedlich wir damit umgehen.“ Die Frauen betrachten den jungen Mann, der die dritte Abfuhr des Abends kassiert und schon im Wegdrehen unauffällig die nächste Frau sucht, die er antanzen kann.
Die Frau an der Tanzfläche wendet sich ab: „Ich hole mir noch ein Bier, mit dem Alkohol verschwinden die Bedenken.“ Das muss sie sein, diese Kosten-Nutzen-Rechnung.
Der Artikel "„German Maskenangst“? Zwischen Sehnsucht nach Freiheit und der Angst vor dem Virus" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.