Erinnerungen an Doc Stratmann: „Heute komme ich mal mit meinem Bein“
Ludger Stratmann
Die Nachricht traf viele wie ein Schock: Ludger Stratmann ist tot. Hermann Beckfeld, langjähriger Chefredakteur und selbst Bottroper, erinnert sich an seinen Arzt und viele schöne Stunden.

Ludger Stratmann auf Norderney. Hier war sein persönlicher Rückzugsort. © Christian Stein
Meine erste Begegnung mit Ludger Stratmann? Gefühlt ist sie mindestens 30 Jahre her. Ich war sein Patient, er der Allgemeinmediziner in seiner Praxis an der Prosperstraße im Stadtteil Batenbrock-Süd. Mehr Bottrop, mehr Revier geht nicht. Danach kommen nur noch die Boy und Welheim, einst mit der Kokerei und heute mit der Skihalle.
In Erinnerungen bleiben mir Behandlungsräume, die in die Jahre gekommen waren; aber wer renoviert die Gegenwart, wenn er von einer anderen Zukunft träumt? Was mir bewusst wird, heute mehr als damals: Hinter dem Schreibtisch saß einer, der sich Zeit ließ, der seinen Patienten zuhörte; sie schrieben ihm bis 1998 Rezepte fürs Lachen. Danach waren er und seine Texte reif für die Bühne: Doc, heute komm ich mal mit meinem Bein …
Allwissender Hausmeister im grauen Kittel herrschte auch im Wartezimmer
Ich war einer von vielen, Josef Kwiatkowski, sein Jupp, war einzigartig. Oder doch nur einer von uns Männern, nämlich ein Hypochonder durch und durch, verheiratet mit seiner Inge und seiner Kleingartenanlage. Die Prioritäten änderten sich täglich. Jupp, der allwissende Hausmeister im grauen Kittel, der König der Siedlung, der so herrlich pseudowissenschaftlich über Krankheitsverläufe referierte, über die Mieter, Nachbarn und die große Politik herzog und über die Patienten im Wartezimmer sowieso. Lächerlich, mit welchen Wehwehchen sie den Doktor langweilten und dazu ihm, dem Jupp, noch die Kreuzworträtsel in den bunten Blättchen vor der triefenden Nase wegschnappten. Klarer Fall für eine Eigendiagnose: eine fette Grippe. Er brauchte einen gelben Schein.
Bottroper, auch wenn er in Verl geboren wurde, halten zusammen. Wir wurden Stammgäste im einstigen Amerikahaus mitten in der Essener City, das er und Bruder Christian kauften und für 2,5 Millionen Mark zu Stratmanns Theater umbauten. Seit 2004 gehen die Brüder getrennte Wege, lässt Christian den Stern von Wanne-Eickel im Mondpalast aufgehen.
Nach einem, manchmal auch zwei Pils an seiner Theke im Restaurant gleich nebenan ließen wir in bester Stimmung kein Programm aus: Hauptsache ich werde geholfen, Machensichmafrei, Kunstfehler. Es war bestes leichtes Kabarett für den Pott, manchmal auch anstrengend, wenn der Doc im weißen Arztkittel so richtig in seinem Element war und mit queren Fachausdrücken durch den Abend dribbelte.
Jupp im Fernsehen war nicht ganz so lustig
Ludger Stratmann, er war nun mal ein Mediziner, Kabarettist, Ruhrgebietler, ein Bühnenmann – später auch im WDR als Kohlenpott-Kneipenwirt Jupp, bis 2016 sogar mit eigener Comedysendung. Doch, ganz ehrlich: Ich fand den vom Drehbuch und Zeitdruck ferngesteuerten TV-Jupp, der sein Programm abspulen musste, nicht so witzig wie live im eigenen Theater.

Hermann Beckfeld, langjähriger Chefredakteur und ebenfalls aus Bottrop, kannte Ludger Stratmann viele Jahre lang. © Dieter Menne Dortmund
Ich besuchte ihn in seinem kleinen, gemütlichen, fast urigen Eigenheim in Bottrop mit seinem Lieblingsplatz auf der Terrasse mit Blick auf den Garten und das zweite Häuschen, „wo die Oma wohnte“. Abends von seinen Fans gefeiert, genoss er hier das Normale: „Wer sich zuerst bewegt, muss den Kaffee kochen.“
Anfangs habe ich nicht verstanden, warum er Jahre später umzog in eine stolze, aber auch kühle ehemalige Steigervilla. Vielleicht lag es an dem Zaun mit den spitzen Pfosten, der das Anwesen schützte und wohl auch sein Privatleben. Mittlerweile wollte jeder den Doc aus Bottrop, rastlos, ruhelos, manchmal auch vom frühen Abschied träumend, erleben, einmal sogar 4500 Zuschauer in der Grugahalle.
Norderney war sein Rückzugsort
Norderney, sein Haus direkt gegenüber vom Friedhofseingang, wurde zum Rückzugsort. Jupp habe ich am Strand und in der Milchbar nie getroffen, Ludger Stratmann blieb lieber im Garten.
Einmal, es klingt kurios, interviewte ich ihn beim Joggen durch den Stadtgarten und Köllnischen Wald. Auch wenn wir im Schneckentempo liefen, kam ich vor Lachen aus der Puste, er vom Erzählen: „Ich weiß, dass ich langsam laufe. Gleich rennt ein Öpaken mit krummen Beinen an mir vorbei und mich überholt die Gehwägelchen-Gruppe aus der Seniorenresidenz.“
Er wollte eigentlich nie witzig sein
Wie oft musste er seinen inneren Schweinehund überwinden. Der Arzt, der irgendwann aufhörte, Kette zu rauchen, der Comedian, der keiner sein wollte. Der Kabarettist, den vor den vielen, vielleicht zu vielen Auftritten stets das Lampenfieber quälte. Ludger Stratmann, der eigentlich nicht witzig sein wollte und auch nicht war, eher schüchtern, unsicher, zum Schluss auch müde.
In der Nacht zu Mittwoch ist er in seinem Bett friedlich eingeschlafen. Es ist ein Tod, wie er ihn sich gewünscht habe, erzählt seine Familie. Er hatte noch sechs Auftritte geplant. Der Kittel von Jupp bleibt für immer im Schrank.