Das Trauma des Holocaust endet niemals
Ausstellung in Gelsenkirchen
Henri Kichka ist heute 91 Jahre alt. Er hat als junger Mann zehn (!) Konzentrationslager überlebt. Aber er sprach nie über den Holocaust. Bis sich sein jüngster Sohn das Leben nahm. Da hat Henri angefangen zu erzählen und bis heute nicht aufgehört. Dieses Schicksal dokumentiert ein Comic-Roman seines älteren Sohnes Michel Kichka. Die Originalzeichnungen sind jetzt im Kunstmuseum Gelsenkirchen zu sehen.
Es ist "nur" eine Zweiraum-Ausstellung - aber eine, die es in sich hat. Denn die Graphic Novel "Zweite Generation. Was ich meinem Vater nie gesagt habe" ist schlichtweg ein Meisterwerk.
Der Belgier Michel Kichka, geboren 1954, erzählt darin vom Trauma des Holocaust und wie es auch die Kinder der Opfer schwer belastete. Weil der Vater über das Erlebte nicht sprach, um der Familie Leid zu ersparen, entwickelte der kleine Junge grässliche Ängste. In seinen Träumen sah der Sohn den Vater als Toten, fühlte sich selbst wie im Sarg. "Meine Nächte waren von Gespenstern bevölkert", schrieb er später - und zeichnete SS-Skelette, die dem kleinen Michel hinter der Kellertür auflauern.
Vater und Sohn
Die Selbsttötung seines Bruders Charly 1988 - da sind die Kinder längst erwachsen - hat seltsame Folgen. Der Vater fängt an, von der Shoah zu erzählen und wird zum bekanntesten Zeitzeugen Belgiens. Das Verhältnis zum älteren Sohn Michel, der in Israel lebt und ein berühmter Karikaturist unter anderem für CNN ist, entwickelt sich zu einer herzlichen Freundschaft. Deren Höhepunkt ist das Buch über die "Zweite Generation", für das Michel Kichka tieftraurig, ehrlich und humorvoll die Familiengeschichte skizziert - und zwar auf geniale Weise. Hinter seinem Vorbild, der "Maus" von Art Spiegelman, muss sich das Ergebnis nicht verstecken. "Mein Vater war erst erbost über den Comic, inzwischen signiert er ihn", erzählt der Zeichner in den aufschlussreichen Videos, die die Schau in Gelsenkirchen begleiten.
Texte in französischer Sprache
Einziger Wermutstropfen der Ausstellung: Die Comic-Texte sind, da es sich um die Originale handelt, in französischer Sprache verfasst. "Wir wollten die Ausstellung nicht zu textlastig machen", sagt Leane Schäfer, Direktorin des Museums. Zur Übersetzung muss der Besucher daher zu den deutsprachigen Comic-Büchern greifen, die in den Räumen ausliegen.
Die Ausstellung in Gelsenkirchen entstand in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für verfolgte Künste in Solingen, das die Zeichnungen aus dem Besitz des Dargaud-Verlages verwahrt, und des Museum für Gegenwartskunst in Krakau (MOCAK), das sich in der Fabrik von Oskar Schindler befindet. Die Schau präsentiert auch erste Bilder aus einem polnisch-deutschen Film über Henri und Michel Kichka, der 2018 fertig werden soll. Leider ist Henri Kichka schwer erkrankt. Deshalb konnte auch der Sohn nicht zur Ausstellungseröffnung kommen.Bettina Jäger