Der weltweite Siegeszug der immersiven Kunst-Erlebnisse könnte etwas mit der Netflixserie „Emily in Paris“ zu tun haben. Klingt wie eine Verschwörungstheorie, Tatsache ist aber: In der fünften Folge der ersten Staffel wandelt die britische Schauspielerin Lily Collins als Emily minutenlang durch das „Atelier des Lumières“ in Paris, während Vincent van Goghs berückende Bildwelt an den Wänden lebendig wird. Ist diese Szene wirklich so wichtig für diese Art von neuartigen Ausstellungen, die im Januar 2023 auch nach Dortmund kommen?
Der erste „Wow-Effekt“
„Sehr wichtig“, antwortet Renaud Derbin, Direktor des „Phoenix des Lumières“ in Dortmund. „Viele Menschen wissen gar nicht, was immersive Kunst ist.“ Die Serie habe dazu geführt, dass insbesondere junge Menschen einen Draht dazu entwickelt hätten. Die Serie habe den „Wow-Effekt“ verständlich gemacht – jenen Moment der Überwältigung, wenn Besucher und Besucherinnen zum ersten Mal in den Strudel bewegter Farben und Formen geraten.
Doch was ist eigentlich immersive Kunst? Der bekannte Publizist Thomas Oberender, der auch schon am Schauspielhaus Bochum und für die Ruhrtriennale tätig war, hat diesen Begriff 2016 in einem Interview mit dem Magazin Monopol sehr gut beschrieben. „Es bedeutet salopp gesagt ,eintauchen‘“, erklärte er damals. „Immersion ist ein Schlüsselphänomen unserer Zeit, das die Erfahrung oder das Gefühl einer vollumfänglichen Einbettung in die eigene Umwelt beschreibt. Wenn diese Umwelt artifiziell ist, gehen wir also im Kunstwerk auf – es verschwindet, das Medium wird unsichtbar, wir sind ‚drin‘.“
Riesige Projektionsfläche
Also hereinspaziert in den „Phoenix des Lumières“ (Phoenix der Lichter): Das ist eine 1905 erbaute, 2200 Quadratmeter große ehemalige Gasgebläsehalle auf dem Gelände des einstigen Stahlwerks Phoenix West in Dortmund-Hörde. 2003 hatte sie ein neues Leben als Ausstellungshalle begonnen, dann wurde sie zur „Warsteiner Music Hall“ umgebaut und wird nun wie der mythische Vogel Phönix am 28. Januar erneut wiederauferstehen.
„Wir haben 5300 Quadratmeter Projektionsfläche“, berichtet Renaud Derbin. Dazu gehören der Boden und die 13 Meter hohen Wände. 110 Videobeamer projizieren ein Programm, das rund eine Stunde dauert. Zur Eröffnung werden „Gold und Farbe“ mit Werken von Gustav Klimt über die Leinwände gehen, aber auch „Hundertwasser – Auf den Spuren der Wiener Secession“ und „Journey“, eine moderne Vision des Studios Nohlab. Dabei zeigt die Erfahrung, so Derbin, das die Menschen rund 90 Minuten und länger bleiben, um sich die Endlosschleife noch einmal anzusehen.
Zwei „Gastspiele“ in Mülheim
Immersive Shows sind ein Geschäft. Ein „Big Player“ wie „Culturespaces“ aus Paris – so heißt das Mutter-Unternehmen des Phoenix – verfügt über weltweit 13 Standorte bis nach Südkorea und zählt sechs Millionen Besucher pro Jahr. Im Mülheimer Technikum dagegen gastierten zuletzt mit Cofo Entertainment – die Van-Gogh-Show läuft noch bis 15. Januar – und Alegria mit „Monets Garten“ mittelständische Konzertveranstalter, die in der Corona-Pandemie ein weiteres Standbein gesucht hatten.
Und anderswo? In den USA zeigten laut einem Artikel im „Wall Street Journal“ schon 2021 fünf Veranstalter Van-Gogh-Shows an 40 Standorten. Dass sich alle zuerst auf Künstler wie Van Gogh oder Gauguin stürzen, hat einen einfachen Grund: das Geld. 70 Jahre nach dem Tod erlischt – zumindest in Deutschland – das künstlerische Copyright. Es fallen keine Kosten mehr für die Rechte an.
Wichtiges Buch von Oliver Grau
Der Begriff der Immersion in der Kunst entstand wohl um die Jahrtausendwende. 2004 jedenfalls erschien das viel beachtete Buch des Kunsthistorikers Oliver Grau unter dem Titel „Virtual Art: From Illusion to Immersion“. Grau fand heraus, welche Methoden das Eintauchen in digitale Bildwelten befördern – und das sind besonders die Dimension und Gestaltung der Darstellungen, die das Blickfeld des Betrachters ausfüllen und sich horizontal und vertikal bis zu 360 Grad erstrecken müssen.
Dieser Effekt ist uralt. Oliver Grau sah schon in den Höhlen von Lascaux um 3000 vor Christus erste Versuche, den Menschen zu umfangen – in diesem Fall mit den Bildern großer Tiere. Heute ist das gemalte Bauernkriegspanorama von Werner Tübke in Bad Frankenhausen nicht ganz so bekannt wie die Rundgemälde von Yadegar Asisi. Die immersiven Shows von heute sind dagegen ein kommerzieller Ableger der digitalen Künste, die am Computer entstehen. So zeigt das Folkwang Museum in Essen von April bis August 2023 Arbeiten von Rafaëel Rozendaal. Er gilt als einer der bekanntesten digitalen Künstler. Auch das Lichtkunstmuseum in Unna ist bekannt für immersive Installationen.
Die Reise geht weiter
Sind also die neuen Shows und die herkömmlichen Museen erbitterte Konkurrenten? Das ist nicht der Fall. „Wir sind Türöffner für die Standard-Museen“, argumentiert Renaud Derbin. „Alle Häuser denken darüber nach, wie sie immersive Effekte bieten können“, antwortet Thomas Seelig vom Folkwang Museum auf dieselbe Frage. Die Konkurrenz „sehen wir sportlich“, meint Seelig, fragt aber auch: „Wo bleibt die Aura des Originals?“ Lichtkünstler Mischa Kuball sieht die Sache kritischer. Im Gespräch mit der Rheinischen Post betonte er: „Ich habe nichts gegen diese Art der gut gemachten Unterhaltung. Sie hat ihre Berechtigung. Aber ich mag es nicht, wenn sie unter dem Segel der Kunst fährt.“
Zurückdrehen lässt sich die Entwicklung nicht. Culturespaces zeigt längt nicht mehr nur die Werke von Künstlern, die über 70 Jahre tot sind, sondern hat auch den Comic „Tim und Struppi“ von Hergé (1907-1983), die blauen Werke von Yves Klein (1938-1962) sowie Arbeiten von Zeitgenossen im Portfolio. Dem gehen dann finanzielle Vereinbarungen mit den Künstlern selbst oder den Erben des Copyrights voraus.

Mit VR-Brillen
Mit Computern, Handys, VR-Brillen oder Datenhandschuhen lassen sich längst auch die Virtual (virtuelle) und Augmented (erweiterte) Reality und damit noch tiefere Ebenen der Immersion erreichen. Jaron Lanier, der Erfinder des VR-Begriffes, hat einmal gesagt: „Das Geheimnis der Virtuellen Realität besteht darin, dass das Gehirn Illusionen aufnehmen möchte.“ Und genau deshalb dürfte die Reise technisch und ästhetisch immer weiter gehen.
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