Die Gleise 3 und 4 am Lüner Hauptbahnhof sind aktuell für Menschen mit einer Einschränkung nicht erreichbar.

Die Gleise 3 und 4 am Lüner Hauptbahnhof sind für Marie Louise Wißmann und weiteren Menschen mit einer Einschränkung weiterhin nicht zu erreichen. © Leonie Freynhofer

Weiterhin keine Barrierefreiheit am Lüner Bahnhof: „Angst hat man immer“

rnBahnverkehr

Für Marie Louise Wißmann ist eine spontane Bahnfahrt vom Lüner Bahnhof nicht möglich, da weiterhin nur zwei der vier Gleise barrierefrei gestaltet sind. Ein Szenario, das große Risiken birgt.

Lünen

, 29.07.2022, 11:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Wenn Marie Louise Wißmann vom Lüner Hauptbahnhof mit der Bahn Richtung Münster oder Dortmund fahren will, geht das nicht spontan. Eine Woche vorher plant sie bereits, wie die Gegebenheiten vor Ort sind und welches Risiko sie mit ihrer Reise eingeht. Der Grund: Die 29-Jährige sitzt im Rollstuhl. Somit werden die unzähligen Treppen am Bahnhof immer wieder zu einer unüberwindbare Hürde.

Theoretisch können Menschen in Lünen an vier verschiedenen Gleisen auf zwei Bahnsteigen an- und abreisen. Praktisch sieht das für Menschen mit einer Einschränkung jedoch ganz anders aus. Derzeit sind nur Gleis 1 und 2 durch den dortigen Lift zu erreichen. Und auch der ist laut Wißmann oft nicht einsatzbereit. „Gefühlt jedes zweite Wochenende ist der Fahrstuhl kaputt“, erklärt sie. Und wenn er funktioniert, sei die Fahrt alles andere als angenehm. Denn es rieche dort teilweise nach Urin sowie Erbrochenem.

Nur ein Lift weiterhin intakt für Menschen mit Barriere

Durch den Lift ist es Wißmann zumindest möglich, die vorderen Gleise zu erreichen. An der Rückseite des Bahnhofes stellt sich eine komplett andere Situation dar. Um dorthin zu gelangen, gilt es erst einmal die Treppen in der Unterführung zu überwinden. Ein Lift, der dort angebracht ist, sei laut einem Sprecher der Deutschen Bahn intakt, werde jedoch kaum genutzt. Umgehen lässt sich diese erste Hürde, indem man den seitlichen Eingang zum Bahnhof nimmt - kommend von der Münsterstraße und vorbei an der Radstation. Doch wenn nur wenig Zeit bleibt, um das Gleis zu wechseln, sei dies kaum eine Option, erklärt Wißmann.

Der Treppenlift in der Unterführung, welche die zwei Bahnsteige verbinden, ist intakt. Er wird jedoch kaum genutzt, sagt die Deutsche Bahn.

Der Treppenlift in der Unterführung, welche die zwei Bahnsteige verbinden, ist intakt. Er wird jedoch kaum genutzt, sagt die Deutsche Bahn. © Leonie Freynhofer

Das größte Problem für Menschen mit einer Behinderung zeigt sich dann am Aufgang von Gleis 3 und 4. Wie bereits im vergangenen Jahr berichtet, wurde dort zwar ein Treppenlift angebracht. Der ist jedoch nicht in Betrieb. Nach Angaben der Radstation sei er seit Juni 2021 defekt, heißt es von einem Sprecher der Deutschen Bahn. Die Stadt Lünen nennt in diesem Zusammenhang einen anderen Zeitpunkt: Im September fand demnach die letzte Reparatur des Treppenlifts statt. Davor seien unter anderem zwei Reparaturen im Jahr 2020 sowie eine weitere im Jahr 2021 erforderlich gewesen - allesamt nach Vandalismusschäden.

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Im vergangenen Jahr teilte die Stadt Lünen mit, dass wegen der ständigen Zerstörung des Liftes eine nachhaltigere Lösung geschaffen werden soll. Die Idee damals: Unten und oben wollte man einen Safe ins Mauerwerk einlassen, der mit einem sogenannten Euroschlüssel zu öffnen ist. Diese Lösung ließe sich aber bei dem vorhandenen Modell nicht umsetzen. Von der Deutschen Bahn kommt dahingehend die Information, dass durch fehlende Ersatzteile eine Reparatur weiter aussteht.

Bei Gleiswechsel auf Hilfe von anderen Menschen angewiesen

Doch selbst wenn der Lift funktioniert, steht man auf dem Gleis vor der nächsten Schwierigkeit. Denn die Bahnunternehmen, die dort mit ihren Zügen halten, bringen keine einheitliche Einstiegshöhen mit. Für Marie Louise Wißmann bedeutet dieses Szenario, dass sie extrem vorsichtig beim Ein- und Aussteigen sein muss. „Ich könnte mit dem Rollstuhl in den Spalt kommen. Deswegen kipple ich immer ausreichend an, um vernünftig in den Zug zu kommen.“

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Trotz der peniblen Planung, die einer Reise von Wißmann vorausgeht, kann es immer sein, dass es spontan einen Gleiswechsel gibt. Wenn die 29-Jährige mit ihrer Assistenz unterwegs ist, wird sie in ihrem Rollstuhl Stufe für Stufe runtergefahren, nach oben ziehe man sie dann hoch. Klingt kompliziert und ist es auch. „Das Problem ist, dass einige Stufen nicht fest sind und wackeln. Je dunkler es ist, desto schwieriger ist es außerdem.“ Zwei Risiken, die Wißmann eingehen muss.

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Wenn die junge Frau allein unterwegs ist und ungeplant an Gleis 3 oder 4 ankommt, ist sie auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. „Man trifft Gott sei Dank immer jemanden. Sonst stehe ich halt da.“ Während ihre Assistenz jedoch weiß, wie sie Wißmann Treppenstufen hoch und runter fahren kann, sei bei Fremden immer eine Gefahr für beide Seiten vorhanden.

Mischung aus Ärger, Unverständnis und Angst

Für die 29-Jährige ist die Situation am Lüner Hauptbahnhof mit einer Mischung aus Ärger und Unverständnis verbunden. Aber beim Bahnfahren würden die Komplikationen nicht aufhören. Auch eine Reise mit dem Bus sei problematisch. Wißmann hat es bereits erlebt, dass ein Fahrer nicht aufgestanden ist, um die Klappe für ihren Rollstuhl auszuklappen. „Ich finde es schon krass, zu merken, wo wir im Jahr 2022 stehen.“ Durch die plötzlichen Risiken ergibt sich bei Wißmann aber noch ein anderes Gefühl. „Angst hat man immer. Die muss man aber ablegen, wenn man ausgeht. Sonst bleibt man nur noch zu Hause.“

Marie Louise Wißmann hofft, dass der Lüner Hauptbahnhof in zwei Jahren barrierefrei gestaltet wird.

Marie Louise Wißmann hofft, dass der Lüner Hauptbahnhof in zwei Jahren barrierefrei gestaltet wird. © Leonie Freynhofer

Zumindest am Lüner Hauptbahnhof ist jedoch eine Verbesserung der Barriere-Situation in Sicht. Nicht mehr in diesem Jahr, aber sie kommt. Laut einem Sprecher der Deutschen Bahn seien verschiedene Umbauten geplant. Diese enthalten die Anpassung des Bahnsteiges auf eine Nutzungslänge von 215 Metern und die Aufhöhung auf 76 Zentimeter, um einen stufenfreien Ein- und Ausstieg zu ermöglichen. Die wohl größte Veränderung wird an der Rückseite des Bahnhofsgebäudes umgesetzt. Hier sei ein „Neubau der Zuwegung zum Aufzug zur Überbrückung des Niveaus in der Personenunterführung“ angedacht.

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Exakte Bauzeiten für den Lüner Hauptbahnhof kann die Deutsche Bahn „aufgrund des frühen Planungsstadiums“ jedoch nicht nennen. Marie Louise Wißmann hofft, dass es in zwei Jahren deutlich barrierefreier am Lüner Hauptbahnhof ist. „Meistens dauert es dann aber doch viel länger“, erklärt sie gleichzeitig ihre Zweifel an diesem Wunsch.

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